Innovationsprozesse entwickeln

Diese Methode stellt den Rahmen bereit für die Integration von Wissen über biologisches und soziales Geschlecht in die Entwicklung von Innovationsprozessen. Das Entwickeln von Innovationen bezieht sich hier auf jegliche Produkte, Prozesse, Dienstleistungen oder Infrastrukturen im öffentlichen oder privaten Sektor.

Diese Methode setzt ein grundlegendes Verständnis der anderen in diesem Projekt verwendeten Methoden (Sex analysierenAnnahmen hinsichtlich Gender analysieren und Überschneidungen zwischen Sex, Gender und weiteren Faktoren analysieren) ebenso voraus wie eine Verständigung über die spezifischen Bedeutungen von Sex und Gender (vgl. auch den Leitfaden Technikwissenschaften).

Biologisches und soziales Geschlecht in die Entwicklung von Innovationsprozessen zu integrieren kann:

  • zu neuen Produkten, Prozessen, Infrastrukturen oder Dienstleistungen führen;
  • zu einem das menschliches Wohlergehen – einschließlich der Geschlechtergleichheit – fördernden Forschungsdesign führen;
  • zum Erkennen neuer Märkte und Geschäftschancen führen;
  • zu Technologien führen, die den Anforderungen einer komplexen und vielfältigen Gruppe von Anwender_innen entsprechen;
  • die globale Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit steigern.

Jede mit technischer Planung befasste Organisation hat ihr eigenes System und ihre eigenen Prozesse für die Planung und das Management von Innovation. Diese Methode bietet einzelne Bausteine an, die an die Anforderungen spezifischer Systeme angepasst werden können.

Ein Methode zur Entwicklung geschlechterreflexiver Innovationen besteht darin, zu erkennen, inwieweit im Zusammenhang mit früheren Innovationen und Technologien getroffene Entscheidungen bestimmten Gruppen von Frauen und/oder Männern mehr gedient haben als anderen.

  • Wo war der blinde Fleck bzw. die Voreingenommenheit früherer technischer Innovationsprozesse hinsichtlich des biologischen und sozialen Geschlechts?
    • Die Ich-Methode zum Beispiel – das heißt, dass Entwickler_innen Produkte für Anwender_innen mit ähnlichen Interessen, Fähigkeiten und Bedürfnissen wie sie selbst schaffen – kann einen „männlichen Standard“ zur Folge haben, da in vielen Wirtschaftsbereichen, wie zum Beispiel in der Automobilentwicklung oder der IT-Branche etc. mehrheitlich Ingenieure tätig sind (Oudshoorn et al., 2004).
    • Ein für „alle“ entwickeltes Design kann ebenfalls einen unbewussten „männlichen Standard “ zur Folge haben (Oudshoorn et al., 2004). Auch wenn oft nicht ausgewiesen, sind z. B. die meisten Videospiele für Burschen und Männer gestaltet (vgl. Fallstudie: Videospiele/Video Games). Auch die frühe Sprachsynthese produzierte standardmäßig Männerstimmen, was sich einschränkend auf deren Nützlichkeit als assistive Technologie auswirkte (vgl. Fallstudie: Maschinen zum Sprechen bringen/Making Machines Talk). Forschende haben nun auch eine genderneutrale Stimme für virtuelle Assistenten entwickelt (s. Fallstudie: Virtuelle Assistenten)
  • Wenn Unterschiede zwischen Frauen und Männern berücksichtigt wurden, basieren diese auf Stereotypen? Stereotypisierungen haben zur Folge, dass tatsächliche Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen nicht erfasst werden. Auf Stereotypen basierende Produkte oder Systeme können Anwender_innen dazu zwingen, mit einschränkenden oder ungleichen Rollen konform zu gehen. Potenzielle Konsument_innen und Anwender_innen wollen möglicherweise nicht derart eingeschränkt werden und sehen sich daher anderweitig um oder verändern Produkte ohne Autorisierung. Auf Stereotypen basierende Produkte oder Systeme können Ungleichheiten, die auf sozialem Geschlecht oder anderen Faktoren basieren, stützen oder verstärken. Sie tragen nicht zur Steigerung der sozialen Gerechtigkeit oder Verantwortung von Unternehmen bei (Rommes, 2006).
  • Basieren die insbesondere für Mädchen oder Frauen entwickelten Produkte oder Systeme auf Stereotypen? Ein „rosa Design“ bedient Stereotype und verfehlt möglicherweise entscheidende Aspekte im Hinblick auf die tatsächlich vorhandene Vielfalt auf frauenspezifischen Märkten. Zum Beispiel fragten Entwickler_innen von Philips junge Mädchen, was sie von einem in Entwicklung befindlichen Spielzeug namens „Kidcom“ (oder IN2IT) hielten und die Kinder lehnten die runden Formen und die rosa Farbe ab, für die sich die Entwickler_innen aufgrund von Stereotypen entschieden hatten (Sørensen et al., 2011). Das Denken über binäre Geschlechtsmodelle hinaus hilft auch dabei, die wachsenden Populationen von Menschen zu inkludieren, die sich nicht als Mädchen/Frauen oder Burschen/Männer identifizieren (s. Begriff: Soziales Geschlecht).
  • Welche öffentlichen Baumaßnahmen oder Geschäftschancen ließ man sich in Folge eines mangelnden Verständnisses geschlechtsspezifischer Unterschiede unter Umständen entgehen? (vgl. Fallstudie: Öffentlicher Verkehr/Public Transportation).

Probleme, die bei der Analyse des biologischen (Sex) und sozialen Geschlechts (Gender) vermieden werden sollten:

  1. Blindheit gegenüber potenziellen Geschlechterdifferenzen (auf der Ebene sowohl des biologischen wie des sozialen Geschlechts) kann dazu führen, dass Geschäftschancen verpasst und bestimmte Personengruppen außen vor gelassen bzw. nicht ausreichend berücksichtigt werden u. a. m..
  2. Behandelt man „Frauen“ und „Männer“ als homogene Gruppen, werden Unterschiede zwischen Frauen und Männern ignoriert.
  3. Werden Unterschiede zwischen Frauen und Männern überbetont, übersehen Techniker_innen möglicherweise signifikante Gemeinsamkeiten zwischen Frauen und Männern.
  4. Ein auf Stereotypen basierendes Design kann unpopuläre Produkte zum Ergebnis haben.

● Der Aufbau von Designteams (im Hinblick auf soziales Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, Religion oder andere Hintergründe) kann Perspektiven erweitern (Danilda et al., 2011; Nielsen et al., 2017). Diversität ist aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit wichtig, gewährleistet aber keine geschlechterreflexiven Innovationen. Eine Frau in einem Team etwa steht nicht für alle Frauen.

● Das Einbeziehen von diverser Expertise (zum Beispiel in MINT-Fächern Sozialwissenschaft, Recht, Geisteswissenschaften, Genderanalyse und Analyse der ethnischen Zugehörigkeit etc.) kann Innovation maximal vorantreiben. Derartige Expertise kann hausintern oder von außerhalb des Projekts rekrutiert und entwickelt werden. Letzten Endes werden alle im Team die für ihren Bereich relevanten Methoden der Gender- und intersektionalen Analyse lernen wollen. Sie ist der effizienteste Weg, um Forschungsprioritäten zu überdenken und Forschungsfragen zu formulieren, die zu Innovationen führen (s. Überdenken von Forschungsprioritäten, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster und Formulieren von Forschungsfragen).

Entwicklungsprozess mit Methoden der Analyse von Sex und Gender. Ausgehend von der Basis mit externem Wissen und externer Technologien bis zum neuen Produkt bzw. zur neuen Dienstleistung.

● Bei projektrelevanten Entscheidungen analysieren Techniker_innen, wer von einem bestimmten Projekt profitiert und wer nicht. Es ist wichtig, die differentiellen Effekte eines Systems oder Produkts auf Frauen, Männer und genderdiverse Personen mit unterschiedlichen sozialen, sozioökonomischen und kulturellen Hintergründen zu analysieren (Schraudner, 2010; design-people, 2015; s.  Überdenken von Forschungsprioritäten und Ergebnisse und Fallstudie: HIV-Mikrobizide, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

● Relevante Variablen im biologischen Geschlecht sind biophysikalisch und können genderbejahende Theorien für Transgender-Personen umfassen (s.  Begriff: Biologisches Geschlecht (Sex); Methoden: Analyse des biologischen Geschlechts und Überdenken von Standards und Referenzmodellen; Fallstudie: Inklusive Crashtest-Dummys, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster und Fallstudie: Herzkrankheit in diversen Populationen, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

● Relevante Variablen im sozialen Geschlecht sind kulturbedingt und beziehen sich auf spezifische Geschlechternormen, Geschlechterverhältnisse und Genderidentitäten (s.  Begriff: Soziales Geschlecht (Gender); Methode: Analyse des sozialen Geschlechts). Geschlechtsspezifische Verhaltensweisen bei möglichen Anwendungen können die Nutzungs- oder Zugangsmuster etc. prägen. Bei der Betrachtung des sozialen Geschlechts sollten Techniker_innen die Analyse des sozialen Geschlechts in empirischer Evidenz über tatsächliche Menschen und tatsächliche Praktiken, Wünsche, Bedürfnisse usw. gründen. Ein Design auf Genderstereotypen zu gründen, kann sich negativ auf den Erfolg von Produkten oder Systemen auswirken.

● Es ist wichtig, Unterschiede zwischen Menschen mit unterschiedlichen Genderidentitäten zu analysieren, man sollte jedoch auch Ähnlichkeiten erkennen und verstehen (s. Fallstudie: Knie ohne Geschlecht, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

● Es ist wichtig, biologisches und soziales Geschlecht zu analysieren, es ist jedoch auch notwendig, andere Faktoren zu untersuchen, die sich mit biologischem und sozialem Geschlecht überschneiden.

Anwender_innen und Kund_innen sind für Design und Entwicklung eine wichtige Quelle von Informationen über biologisches und soziales Geschlecht. Es gibt eine Vielzahl von Wegen, das potentielle Genderwissen von Nutzer_innen zu erschließen.

● Partizipatorische Forschung bemüht sich typischerweise, die Interessen, Vorteile und Verantwortlichkeiten zwischen Anwender_innen und Design- oder Konstruktionsteams auszugleichen (s. Partizipatorische Forschung und Gestaltung). Partizipatorischen Forschung ist ein Weg, um Zugang zum impliziten Wissen von Nutzer_innen zu erhalten – Wissen, das sich wegen der Geschlechterverhältnisse entlang von Gender-Linien unterscheiden kann (s. Fallstudie: Wasserinfrastruktur, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster; Smarte Mobilität, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

● Erhebungen, Interviews oder Fokusgruppen. Diese Techniken sind mit Sorgfalt einzusetzen. Nutzer_innen berichten möglicherweise von für ihr soziales Geschlecht akzeptablen Verhaltensweisen, selbst wenn ihre tatsächlichen Verhaltensweisen abweichen; sich auf ungenaue oder sogar falsche Eigenangaben zu stützen, kann sich auf die Popularität der Produkte negativ auswirken (s. Fragen über biologisches und soziales Geschlecht in Erhebungen, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

● Objektive Messungen. Um verlässlich zu sein, sollten sich Messungen nicht auf Eigenangaben stützen. Zum Beispiel untertreiben Spieler_innen von Computerspielen (beide Geschlechter gleichermaßen) im Durchschnitt, wie viele Stunden sie spielen. Forschung, die tatsächliche Spielerzeiten misst, ergibt objektivere Werte über das Spielverhalten (Williams, 2009).

Gute Praxis erfordert eine Ergebnisanalyse (s. Analyse von Forschungsprioritäten und Resultaten). Organisationen sollten:

● sowohl Vorteile als auch Probleme des aktuellen Produkts, Verfahrens, der Dienstleistung oder Infrastruktur betrachten. Auf welchen Erfolgen kann aufgebaut werden, welche Schwierigkeiten sind zu überwinden?

● überlegen, wie sie ihre Genderexpertise weiterentwickeln können. Wie kann das Gelernte in der gesamten Organisation und von ihren Innovationspartnern weiter angewandt werden? Welche zusätzliche Genderexpertise ist bei künftigen Projekten vonnöten?

Danilda, I., & Thorslund, J. (Eds.). (2011). Innovation & Gender. Stockholm: VINNOVA Information.

design-people. Tech-User Navigator, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster. (2015).

Oudshoorn, N., Rommes, E., & Stienstra, M. (2004). Configuring the User as Everybody: Gender and Design Cultures in Information and Communication Technologies. Science, Technology and Human Values, 29 (1), 30-63.

Nielsen, M. W., Andersen, J. P., Schiebinger, L., & Schneider, J. W. (2017). One and a half million medical papers reveal a link between author gender and attention to gender and sex analysis. Nature Human Behaviour, 1(11), 791.

Sørensen, K., Rommes, E., & Faulkner, W. (Eds.) (2011). Technologies of Inclusion: Gender in the Information Society. Trondheim: Tapir Academic Press.

Schraudner, M. (2010). Fraunhofer’s DiscoverGender Research Findings. In Spritzley, A.,Ohlausen, P., Sprath, D., (Eds.), The Innovation Potential of Diversity: Practical Examples for the Innovation Management, pp. 169–185. Berlin: Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung.

Williams, D.; Consalvo, M.; Caplan, S.; Yee, N. (2009). Looking for Gender: Gender Roles and Behaviors Among Online Gamers. Journal of Communication, 59, 700-725.