Mitgestaltung & Partizipatorische Forschung

Mitgestaltung und partizipatorische Forschung werden in einem breiten Spektrum von Feldern eingesetzt, vom Produktdesign in der Industrie über Epidemiologie bis hin zur Software-Entwicklung. Wenn auch die einzelnen Methoden variieren, involvieren Mitgestaltung und partizipatorische Ansätze eine diverse Gruppe von Konsument_innen, Bürger_innen, Interessengruppen oder Forschungsteilnehmer_innen in Aufgaben wie die Festlegung von Forschungszielen, der Sammlung und Bearbeitung von Daten, der Interpretation von Ergebnissen und die Implementierung von Lösungen (Gonsalves et al., 2005; Leung et al., 2004; Greenhalgh et al., 2016; Hoyeret al., 2010; Smith et al., 2017; Voorberg et al., 2011). Mitgestaltung und partizipatorische Forschung bemühen sich üblicherweise um den Ausgleich von Interessen, Vorteilen und Verantwortung unter den relevanten Beteiligten, konzentrieren sich auf Nutzer_innenbedürfnisse und gestalten den gesamten Prozess – von der Planung bis zur Umsetzung – transparent und inklusiv (WHO, 2011).

Praktische Schritte zur Einbindung der Analyse von biologischem und sozialem Geschlecht in Partizipatorische Forschung

Forschende und Designer_innen sollten:

das Arbeits- oder Alltagsfeld identifizieren, mit dem sie sich beschäftigen wollen: Untersuchung geschlechtsspezifischer Strukturen in diesem Feld: Welche Chancen wurden in der Vergangenheit aufgrund des Verzichts auf die Analyse von biologischem und sozialem Geschlecht verpasst? Zum Beispiel wird es in der Transportplanung und in der Gestaltung von Wohnbau und Stadtvierteln entscheidend sein, „Pflegemobilität“ zu berücksichtigen (s. Fallstudie: Smarte Mobilität, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster), ebenso wie die Art, wie Bedürfnisse im Hinblick auf bebaute Umgebungen je nach Geschlechterrolle und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung variieren (s. Fallstudie: Gestaltung von Wohnbau und Stadtvierteln, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

Durchführung von Literaturrecherchen, Befragung von Fokusgruppen und Erarbeitung von Fragebögen, Durchführung von ethnographischen Beobachtungen etc. Was sind die Merkmale von der Zielgruppe (Nutzer_innen, Gemeinschaften)? Diese können Merkmale wie biologisches Geschlecht, Alter, sozioökonomischen Status, ethnische Zugehörigkeit, Muttersprache etc. umfassen. Fragen sind u. a.: Wie wirkt sich das Projekt/Produkt auf unterschiedliche Gruppen von Menschen (definiert durch biologisches Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, Wohnort etc.) aus? Was sind ihre besonderen Perspektiven, Bedürfnisse und Interessen? Wessen praktisches Wissen oder Erfahrung ist für dieses Forschungs- oder Entwicklungsprojekt relevant? Zum Beispiel kann es im subsaharischen Afrika, wo üblicherweise die Frauen dafür verantwortlich sind, Wasser zu holen, entscheidend sein, das Wissen der Frauen über Böden und ihre Wasserführung anzuzapfen, um den Erfolg und die Nachhaltigkeit von gemeindeverwalteten Wasserversorgungssystemen zu gewährleisten (s. Fallstudie: Wasserinfrastruktur, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster). Ähnlich kann die Involvierung von genderdiversen Gruppen von älteren Menschen und ihren Pflegepersonen in die Entwicklung von technischen Hilfsmitteln sicherstellen, dass die Lösungen für eine breite Nutzer_innenbasis brauchbar sind (s. Fallstudie: Technische Hilfsmittel für ältere Menschen, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

Als Alternative zur direkten Einbeziehung von Anwender_innen können Entwickler_innen Personas entwickeln (s. Fallstudien: Smarte Energielösungen, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster; Smarte Mobilität, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster; Hochwertiger urbaner Raum, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster). Personas sind fiktive Repräsentationen von typischen (oder untypischen) Zielpopulationen, die aus Daten über die diesen Akteur_innen gemeinsamen Eigenschaften und Merkmale abgeleitet werden (Miakiewicz & Kozar, 2011). Sie werden als „Modellcharaktere“ oder Bezugswerte für die Anwendererfahrung eingesetzt, um das Design auf die Menschen auszurichten, denen das geplante Projekt zugutekommen soll. Eine wichtige Überlegung bei der Entwicklung von Personas ist es, die Bekräftigung von Stereotypen in Bezug auf Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter etc. zu vermeiden, da diese letztlich die Akzeptanz des Produkts, der Dienstleistung oder der Lösung einschränken kann (Hill et al., 2017; Turner & Turn, 2011).

Einbeziehen von Anwender_innen/Gemeinschaften in Problemdefinition, Anforderungen sowie Lösungs- und Gestaltungsalternativen (Oudshoorn et al., 2003; Oudshoorn et al., 2002). Sicherstellung eines ausreichend heterogenen Teilnehmer_innensamples, um die unterschiedlichen für das Projekt relevanten intersektionalen Positionen zu erfassen (Methode: Intersektionale Zugänge). Involvierung von Nutzer_innen, die hinsichtlich von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Alter und sozioökonomischem Status variieren, erlaubt es Forschenden und Techniker_innen, Informationen darüber zu sammeln, wie sich eine Technologie, ein Produkt oder eine Maßnahme im Gesundheitswesen auf den Alltag von Menschen auswirken, ihre Arbeit unterstützen oder ihre Freizeit bereichern wird.

Die Beobachtung von Menschen bei der Arbeit erlaubt es Wissenschaftler_innen und Techniker_innen, auf implizites Wissen zuzugreifen – Wissen, das für die Arbeitnehmer_innen selbst offensichtlich erscheint oder als gegeben angenommen und selten ausformuliert wird. Das Erfassen von implizitem Wissen kann für formale Forschung und Design neue Perspektiven bringen. Forschende könnten etwa fragen, wie biologisches und soziales Geschlecht beeinflussen, wie die Arbeit erledigt wird, wie ein Gegenstand benutzt wird oder wie ein Verfahren funktioniert; oder wie sehr sich diese Aktivitäten in einem eingeschlechtlichen im Gegensatz zu einem gemischtgeschlechtlichen Zusammenhang unterscheiden. Techniker_innen und Designer_innen können ihr Verständnis von Arbeitsprozessen in der Interaktion mit Anwender_innen ausloten. Zum Beispiel wurden im Rahmen der Entwicklung von neuer Software für Callcenters im Kundendienst die Mitarbeiter_innen des Callcenters – mehrheitlich Frauen – von IKT-Forscher_innen beobachtet, interviewt und eingebunden, um ihre Bedürfnisse zu verstehen. Die Analyse des genderspezifischen Wesens der Arbeit und das Sammeln von Nutzer_innen-Input erlaubten es, eine Software zu produzieren, die zuvor nicht erkannte Bedürfnisse besser erfasste (Maass & Rommes, 2007).

Forscher_innen können in allen Schritten der Projektevaluierung mit Anwender_innen/Gemeinschaften zusammenarbeiten, von der Zieldefinition oder der Erfolgsmessung bis zur Feststellung, ob diese Ziele in den unterschiedlichen Design-, Umsetzungs- und Monitoringschritten erreicht wurden (WHO, 2002; s. Methode: Bewertung geschlechtsspezifischer Auswirkungen, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster). Der Input von Anwender_innen und Gemeinschaften kann auch die Designveränderung von Produkten und weitere Forschungen anleiten.

Gonsalves, J., Becker, T., Braun, A., Campilan, D., de Chavez, H., Fajber, E., Kapiriri, M., Rivaca-Caminade, J., & Vernooy, R. (2005). Participatory Research and Development for Sustainable Agriculture and Natural Resource Management: A Sourcebook, Volume 1: Understanding Participatory Research and Development. Ottawa: International Development Research Centre (IDRC).

Greenhalgh, T., Jackson, C., Shaw, S., & Janamian, T. (2016). Achieving research impact through co‐creation in community‐based health services: literature review and case study. The Milbank Quarterly, 94(2), 392-429.

Hill, C. G., Haag, M., Oleson, A., Mendez, C., Marsden, N., Sarma, A., & Burnett, M. (2017, May). Gender-Inclusiveness Personas vs. Stereotyping: Can we have it both ways? In Proceedings of the 2017 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems, 6658-6671.

Hoyer, W. D., Chandy, R., Dorotic, M., Krafft, M., & Singh, S. S. (2010). Consumer cocreation in new product development. Journal of Service Research, 13(3), 283-296.

Leung, M., Yen, I., & Minkler, M. (2004). Community-Based Participatory Research: A Promising Approach for Increasing Epidemiology’s Relevance in the 21st Century. International Journal of Epidemiology, 33 (3), 499-506.

Maass, S. & Rommes, E. (2007). Uncovering the Invisible: Gender-Sensitive Analysis of Call Center Work and Software. In Zorn, I., Maass, S., Rommes, E., Schirmer, C. & Schelhowe, H. (Eds.) Gender Designs Information Technology (IT), pp. 97 - 108. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Miaskiewicz, T., & Kozar, K. A. (2011). Personas and user-centered design: How can personas benefit product design processes?. Design Studies, 32(5), 417-430.

Oudshoorn, N., Saetnan, A., & Lie, M. (2002). On Gender and Things: Reflections on an Exhibition of Gendered Artifacts. Women’s Studies International Forum, 25 (4), 471-483.

Oudshoorn, N., & Pinch, T. (Eds.) (2003). How Users Matter: The Co-Construction of Users and Technologies. Cambridge: Massachusetts Institute of Technology (MIT) Press.

Smith, R. C., Bossen, C., & Kanstrup, A. M. (2017). Participatory design in an era of participation. Codesign, 13(2).

Turner, P., & Turner, S. (2011). Is stereotyping inevitable when designing with personas? Design Studies, 32(1), 30-44.

Voorberg, W. H., Bekkers, V. J., & Tummers, L. G. (2015). A systematic review of co-creation and co-production: Embarking on the social innovation journey. Public Management Review, 17(9), 1333-1357.

World Health Organization (WHO). (2011). Indigenous Peoples and Participatory Health Research. Geneva: WHO.

World Health Organization (WHO). (2002). Gender Analysis in Health: A Review of Selected Tools. Geneva: WHO.