Gender bzw. die soziale Dimension des Geschlechts

Gender verweist auf soziokulturelle Einstellungen, Verhaltensweisen und Identitäten.

Beachte: 

Verschiedene europäische Sprachen kennen kein Wort für „Gender“. Es ist daher wichtig, ein für die jeweilige Sprache spezifisches Wort zu erfinden oder das englische Wort korrekt einzusetzen.
 

Anmerkung zur deutschen Übersetzung: 

Im Deutschen werden zur Unterscheidung der beiden Dimensionen des Geschlechts sowohl die englischen Begriffe „Sex“ und „Gender“ wie auch die Bezeichnungen biologisches und soziales Geschlecht verwendet. Im Zuge der Internationalisierung von universitären und anderen Forschungskontexten scheint sich zunehmend der Begriff „Gender“ durchzusetzen; gleichzeitig bezeichnen viele Forschungszentren ihr Feld als „Geschlechterstudien“ und nicht als „Gender Studies“. In Komposita, wie Geschlechterverhältnisse, geschlechtsspezifisch, Geschlechterunterschiede, Geschlechterrollen etc., wird stets das deutsche Wort Geschlecht verwendet und nicht extra auf die jeweilige Dimension verwiesen. Wir haben uns bei der Übersetzung für die Ausdrücke „biologisches Geschlecht“ und „soziales Geschlecht“ entschieden, weil wir einerseits der Überzeugung sind, dass die Begriffe „Sex“ und „Gender“ übersetzbar sind und dass andererseits die Übersetzung dieser Begriffe zu einem breiteren Verständnis führt. Darüber hinaus birgt das deutsche Wort Geschlecht den Vorteil, die Verwobenheit und wechselseitige Bedingtheit der biologischen sowie der sozialen Geschlechtsdimension nicht künstlich aufzutrennen.

Gender verweist auf soziokulturelle Normen, Identitäten und Verhältnisse die 1) Gesellschaften und Organisationen strukturieren, und 2) Verhaltensweisen, Produkte, Technologien, Umgebungen und Wissen prägen (Schiebinger, 1999). Gendereinstellungen und Verhaltensweisen sind komplex und verändern sich orts- und zeitabhängig. Wichtig ist, dass Gender multidimensional ist (Hyde et al., 2018) und sich mit anderen gesellschaftlichen Kategorien wie biologischem Geschlecht, Alter, sozioökonomischem Status, sexueller Orientierung und ethnischer Zugehörigkeit überschneidet (s. Intersektionale Zugänge). Gender ist nicht dasselbe wie Sex (Fausto-Sterling, 2012). 

Drei zusammengehörige Gender-Dimensionen:

Als soziale Wesen funktionieren Menschen über erlernte Verhaltenswesen. Wie wir sprechen, unsere Eigenheiten, die Dinge, die wir verwenden, und unsere Verhaltensweisen signalisieren alle, wer wir sind, und etablieren Regeln für die Interaktion. Gender ist einer der Sätze solcher Organisationsprinzipien, die Verhaltensweisen, Einstellungen, körperliches Aussehen und Gewohnheiten strukturieren.

Grafik zu Geschlechternormen

1. Geschlechternormen entstehen durch gesellschaftliche Institutionen (etwa Familie, Schule, Arbeitsplatz, Labore, Universitäten oder Vorstandsetagen), soziale Interaktionen (etwa zwischen Liebespartner_innen, Arbeitskolleg_innen oder Familienmitgliedern) und breitere kulturelle Produkte (etwa Lehrbücher, Literatur, Filme oder Videospiele).

  • Geschlechternormen verweisen auf soziale und kulturelle Einstellungen und Erwartungen bezüglich der Verhaltensweisen, Vorlieben, Produkte, Berufe oder Wissensbereiche, die für Frauen, Männer und genderdiverse Personen angemessen sind und die Entwicklung von Wissenschaft und Technik beeinflussen.
  • Geschlechternormen stützen sich auf Geschlechterstereotype über Frauen, Männer und genderdiverse Personen und verfestigen diese.
  • Geschlechternormen können durch ungleiche Verteilung von Ressourcen und Diskriminierung am Arbeitsplatz, in der Familie oder in anderen Institutionen verfestigt werden.
  • Geschlechternormen sind ständig im Fluss. Sie verändern sich je nach historischer Ära, Kultur oder Ort, etwa die 1950er Jahre im Gegensatz zu den 2020er Jahren, Korea im Gegensatz zu Deutschland, oder städtische Umgebung im Gegensatz zu ländlichen Gebieten. Gender unterscheidet sich auch je nach sozialem Kontext, etwa Arbeit im Gegensatz zum privaten Wohnbereich.
Grafik zu Gender Identities

2. Genderidentitäten verweisen darauf, wie Einzelne oder Gruppen sich selbst im Hinblick auf Geschlechternormen wahrnehmen und präsentieren. Genderidentitäten können kontextspezifisch sein und mit anderen Identitäten interagieren, etwa ethnische Zugehörigkeit, Klasse oder kultureller Hintergrund (s. Intersektionale Ansätze).

Grafik zu Gender Relations

3. Geschlechterverhältnisse verweist darauf, wie wir auf der Grundlage unserer Genderidentität mit Menschen und Institutionen in unserer Umwelt interagieren. Geschlechterverhältnisse umfassen, wie Gender die sozialen Interaktionen in Familien, Schulen, am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit prägt, zum Beispiel das Machtverhältnis zwischen einem männlichen Patienten und einer Ärztin.

● Gesellschaftliche Arbeitsteilungen sind ein weiterer wichtiger Aspekt der Geschlechterverhältnisse, nachdem Frauen und Männer mehrheitlich unterschiedlichen Arten von (bezahlten und unbezahlten) Tätigkeiten nachgehen. Eine Folge derartiger Geschlechtersegregation ist, dass bestimmte Berufe oder Disziplinen symbolisch mit der (angenommenen) Genderkategorie der größeren Gruppe markiert werden: zum Beispiel wird die Pflege als weiblicher Beruf betrachtet, Technik als männlicher.

● Frauen und Männer, die in stark segregierten Rollen arbeiten, eignen sich unterschiedliche Arten von Wissen oder Expertise an, die anzuzapfen für die geschlechterreflexive Innovation manchmal sinnvoll sein kann (s. Mitgestaltung und partizipatorische Forschung; s. auch Fallbeispiel: Wasserinfrastruktur, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

● Geschlechterverhältnisse können sich auch in Produkten oder städtischen Umgebungen wie Transportsystemen manifestieren (s. Fallbeispiel: Smarte Mobilität, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

Grafik_Probleme_Begriff Gender

Zusammenspiel Sex und Gender: Der Begriff Gender wurde in den späten 1960er Jahren eingeführt, um einen biologischen Determinismus zurückzuweisen, der Verhaltensunterschiede als Ergebnis biologischer Veranlagung interpretiert. „Gender“ wurde verwendet, um die soziokulturellen Faktoren, die Verhaltensweisen und Einstellungen prägen, von biologischen Faktoren im Zusammenhang mit dem biologischen Geschlecht zu unterscheiden. Geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und Einstellungen werden erlernt; sie stehen weder fest noch sind sie universell. Geschlechtsspezifische Erfahrungen können sich auf die Biologie auswirken. Hinzu kommt, dass manche Personen Aspekte ihres Körpers verändern wollen, damit sie ihrer Genderidentität besser entsprechen. Sex und Gender sind häufig nützliche analytische Begriffe, auch wenn Sex und Gender sich in Wirklichkeit gegenseitig beeinflussen (s. Methode: Analyse des Zusammenspiels von Sex und Gender).

Rechtliche Genderkategorien: Regierungen verlangen üblicherweise von ihren Staatsangehörigen, ihre Genderidentität in offiziellen Dokumenten wie Geburtsurkunden, Führerscheinen und Reisepässen zu kategorisieren. Viele Ländern erkennen eine dritte Genderkategorie an, unter anderem Argentinien, Australien, Bangladesch, Dänemark, Deutschland, Indien, Kanada, Kolumbien, Malta, Nepal, Neuseeland und Pakistan.

Cisgender und Transgender: Transgender ist ein Überbegriff, der ein Spektrum von Genderidentitäten beschreibt, unter anderem Personen, deren Genderidentität sich von dem unterscheidet, was üblicherweise mit dem biologischen Geschlecht verbunden wird, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde (Marshall et al., 2019; Scandurra et al., 2019). Der Gegensatz dazu ist Cisgender, was Personen beschreibt, deren Selbstdefinition ihrer Identität ihrer geburtsgeschlechtlichen Zuschreibung entspricht. Der Begriff „Cisgender“ wird verwendet, um der Vorstellung etwas entgegenzusetzen, dass Cisgender die Norm sei und Transgender die Abweichung (Aultman, 2014). Andere wiederum weisen das Konzept von Geschlecht als binär völlig zurück und identifizieren sich als genderqueer, nicht-binär, genderfluid oder bigender (Hyde et al., 2018).

Gender ist multidimensional: Gender wird häufig als Spektrum zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit beschrieben, doch derartige Kategorien können Stereotype über Frauen und Männer verfestigen und Personen ignorieren, die nicht den traditionellen binären Geschlechtervorstellungen entsprechen (Nielsen et al., 2020). Gender ist multidimensional: Jede Person kann Konfigurationen von Geschlechternormen, Merkmalen und Verhältnissen erleben, die nicht in die einfachen Kategorien „weiblich“ und „männlich“ zu fassen sind.

Aultman, B. (2014). Cisgender. Transgender Studies Quarterly, 1 (1-2), 61-62.

Fausto-Sterling, A. (2012). The Dynamic Development of Gender Variability. Journal of Homosexuality, 59, 398-421.

Fausto-Sterling, A. (2012). Sex/Gender: Biology in a Social World. New York: Routledge.

Hyde, J. S., Bigler, R. S., Joel, D., Tate, C. C., & van Anders, S. M. (2018). The future of sex and gender in psychology: Five challenges to the gender binary. American Psychologist, 74(2), 171-193.

Kessler, S. (1990). The Medical Construction of Gender: Case Management of Intersexed Infants. Signs: Journal of Women in Culture and Society. 16 (1), 3-25.

Marshall, Z., Welch, V., Minichiello, A., Swab, M., Brunger, F., & Kaposy, C. (2019). Documenting Research with Transgender, Nonbinary, and Other Gender Diverse (Trans) Individuals and Communities: Introducing the Global Trans Research Evidence Map. Transgender health, 4(1), 68-80.

National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine. (2022). Measuring Sex, Gender Identity, and Sexual Orientation. Washington, DC: The National Academies Press. https://doi.org/10.17226/26424, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster.

Nielsen, M.W., Peragine, D., Neilands, T. B., Stefanick, M.L., Ioannidis, J. P. A., Pilote, L., Prochaska, J. J., Cullen, M. R., Einstein, G., Klinge, I., LeBlanc, H., Paik, H. Y., Risvedt, S., & Schiebinger, L. (2020), Gender-Related Variables for Health Research, in press.

Ridgeway, Cecilia L., & Correll, Shelley J. (2004). Unpacking the gender system: a theoretical perspective on gender beliefs and social relations. Gender & Society, 18. 510-5.

Scandurra, C., Mezza, F., Maldonato, N. M., Bottone, M., Bochicchio, V., Valerio, P., & Vitelli, R. (2019). Health of non-binary and genderqueer people: A systematic review. Frontiers in psychology, 10.

Schiebinger, L. (1999). Has Feminism Changed Science? Cambridge: Harvard University Press.