Forschungsprioritäten und -ergebnisse überdenken

Wissenschafter_innen und Techniker_innen, ihre wissenschaftliche Mitarbeiter_innen sowie andere Stakeholder_innen treffen strategische Entscheidungen hinsichtlich der zu verwirklichenden Vorhaben, das heißt: Sie setzen Prioritäten für zukünftige Innovationen. Bei der hier erläuterten Methode geht es um eine Beschäftigung mit den möglichen Auswirkungen dieser strategischen Entscheidungen im Hinblick auf ihre geschlechtsspezifischen Aspekte.

Die Art der Prioritätensetzung von Wissenschaftler_innen und Techniker_innen im Verlauf ihrer Forschungs- und Entwicklungstätigkeit hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die potenziell zu Fragen führen können, die mit dem Geschlecht (Sex und Gender) verbunden sind. Folgende Faktoren sind zu nennen:

  • Initiativen öffentlicher und privater Geldgeber_innen sowie anderer Stakeholder_innen;
  • Finanzierung und Lobbying seitens der Industrie;
  • Finanzierungsprioritäten und Lobbying seitens des Militärs;
  • Finanzierungsprioritäten und Lobbying im Gesundheitssektor;
  • rechtliche Rahmenbedingungen;
  • Marktforschung zu Konkurrent_innen oder spezifischen Marktsegmenten;
  • Ausgestaltung akademischer Disziplinen;
  • berufliche Laufbahnen und Beförderungsvoraussetzungen;
  • politische und kulturelle Initiativen und Bewegungen;
  • der Wunsch nach gesellschaftlicher Problemlösung;
  • persönliche Erfahrungen und Interessen;
  • Überzeugungen und unbewusste Annahmen.

Zentrale Fragen in Zusammenhang mit der Analyse des Wirkungsbereichs der Kategorie Geschlecht, das heißt, von Sex und Gender, sind:

Wie beeinflussen Geschlechternormen, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster Prioritäten? Welche Anliegen in Bezug auf biologisches und soziales Geschlecht wurden bei den gewählten Prioritäten berücksichtigt und wie könnten sie das Programm beeinflussen oder einengen?

a. Worin bestehen die Vor- und Nachteile der Forschung oder Entwicklung hinsichtlich der potentiellen Folgen für die Geschlechtergleichheit? Eine Folge für die Geschlechtergleichheit ist es etwa, wenn technische Hilfsmittel mehr Männern als Frauen zugutekommen. Der historische männliche Standard bei der Sprachsynthese – eine Verzerrung, die sehr wahrscheinlich unbewusst war und daraus entstanden sein könnte, dass die meisten Fachleute in den zugehörigen Feldern Männer sind – führte dazu, dass Frauen, die eine Sprechhilfe benötigten, keine weiblichen Stimmen zur Auswahl standen (s.  Fallstudie: Maschinen zum Sprechen bringen, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster). Forschung lässt möglicherweise auch genderdiverse Menschen außer Acht. Neue Forschungen legen nahe, dass Transgender-Menschen ein höheres Risiko für Herzkrankheiten haben könnten, doch die meisten Studien über koronarer Herzerkrankungen beziehen nur Cis-Frauen und Cis-Männer ein (s.  Fallstudie: Herzkrankheit in diversen Populationen, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

b. Welche Geschlechternormen oder Geschlechterverhältnisse werden durch eine bestimmte Fragestellung oder Entwicklung in Frage gestellt oder bekräftigt (Oudshoorn 1994)? Wenn zum Beispiel Software-Entwickler_innen für Mädchen „pinke” Spiele (etwa Barbie Fashion Designer) auf den Markt bringen, bekräftigen sie möglicherweise ungewollt geschlechtsspezifische Stereotypen über die Interessen von Mädchen und Frauen. Die Entwicklung von gesonderten „blauen“ und „pinken“ Spielen für Burschen und Mädchen bekräftigt das binäre Geschlechtermodell und es könnte sein, dass diese Strategie nicht gewinnbringend ist: Seit 2007 erfreut sich das meistgespielte Spiel unter jungen Erwachsenen zwischen 12 und 17 Jahren, Guitar Hero, eines fast ausgewogenen Anteils von jungen weiblichen und männlichen Spieler_innen (s.  Fallstudie: Videospiele, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

c. Was wird übersehen, wenn Forschung oder Entwicklung von geschlechtsspezifischen Vorannahmen geleitet werden anstatt von Evidenz? Verpasst die Forschung Gelegenheiten zur fruchtbaren Innovation? Zum Beispiel fokussierte die Forschung zur Geschlechtsbestimmung historisch auf die Bestimmung der Hoden und übersah die Genetik der Eierstockentwicklung (s.  Fallstudie: Genetik der Geschlechtsbestimmung, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster). Meereskundliche Forschung über den Klimawandel hat es zum größten Teil verabsäumt, die Auswirkungen der Geschlechterdifferenz auf die Reaktion von Arten auf Umweltstörungen zu berücksichtigen (s.  Fallstudie: Meereskunde, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

Wird die Forschung oder technische Entwicklung sich auf Frauen, Männer und genderdiverse Personen oder bestimmte Gruppen von Frauen, Männern oder genderdiversen Personen unterschiedlich auswirken (Harding, 1991; Oudshoorn et al., 2002; IOM, 2010)? Technische Hilfsmittel zum Beispiel haben das Potential, älteren Menschen zu helfen, unabhängig zu bleiben; Planer_innen sollten berücksichtigen, dass die Mehrheit der älteren Menschen und der Pflegepersonen von älteren Menschen Frauen sind (s.  Fallstudie: Erschließung von Märkten für technische Hilfsmittel für ältere Menschen, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster). Der Großteil der Forschung in der Medikamentenentwicklung wurde nur an männlichen Tieren und Menschen betrieben – das Priorisieren der Gesundheit von Menschen mit weiblichen Körpern erfordert eine Anpassung der Forschungspraxis (s.  Fallstudie: Verschreibungspflichtige Medikamente, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

a. Muss die Forschung oder Technologie zwischen Frauen, Männern und genderdiversen Personen differenzieren? Wenn ja, zwischen welchen spezifischen Gruppen (etwa urban bzw. ländlich, alt bzw. jung)? Welche Geschlechternormen und -verhältnisse oder Genderidentitäten, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster sind für diese Gruppen relevant?

b. Beziehen sich diese Probleme auf das biologische Geschlecht – einschließlich geschlechtsbejahender Therapien –, und könnte es relevant sein (s.  Fallstudie: Verschreibungspflichtige Medikamente, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster)?

Etliche Geldgeber verlangen inzwischen, dass potentielle Fördernehmer_innen berücksichtigen, ob und in welchem Sinne das biologische und soziale Geschlecht für die Ziele und Methoden der beantragten Forschung relevant ist (s. : Richtlinien, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

a. Erfüllt das Einbeziehen einer Analyse von biologischem und sozialem Geschlecht zuvor unerfüllte Bedürfnisse oder erschließt es neue Märkte? Herzkrankheit etwa wurde lange als reine Männerkrankheit betrachtet und „evidenzbasierte“ diagnostische Tests, Behandlungen und klinische Standards basieren auf den häufigsten Symptomen und der Pathophysiologie bei Männern. Doch Herzkrankheit ist auch bei Frauen und genderdiversen Personen eine häufige Todesursache. Die Befassung mit Herzkrankheiten in diesen Populationen erforderte Veränderungen bei Forschungsschwerpunkten und führte zu einer Vielzahl von Einsichten (s.  Fallstudie: Herzkrankheit in diversen Populationen, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

b. Welche Chancen verpasst die Forschung, wenn sie das biologische und soziale Geschlecht außer Acht lässt? Zum Beispiel können Sicherheitsgurte Föten selbst bei Kollisionen bei geringer Geschwindigkeit verletzen. Techniker_innen haben die Gelegenheit verpasst, einen Sicherheitsgurt zu entwickeln, der auch für Schwangere sicher ist. Eine derartige Entwicklung könnte nicht nur die Sicherheitsbedürfnisse von Föten erfüllen, sondern auch einen neuen Markt erschließen. Intersektionale Variablen sind hier ebenfalls wichtig: So wird bei der aktuellen Testung von Sicherheitsnormen für Kraftfahrzeuge die Sicherheit für Menschen jeglichen Geschlechts mit hohen BMIs nicht getestet (s.  Fallstudie: Inklusive Crashtest-Dummys, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster). Gesichtserkennungssysteme wurden nicht dafür entwickelt, geschminkte Gesichter oder Transgender-Gesichter zu erkennen, was die Anwendbarkeit dieser Systeme einschränkt (s.  Fallstudie: Gesichtserkennung, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

c. Wirken sich diese verpassten Chancen negativ auf die Mission der Fördereinrichtung aus?

a. Was müssen Förderinstitutionen wissen, um evidenzbasierte Urteile über die Einbeziehung von biologischem oder sozialem Geschlecht in ihre Forschungs- und Entwicklungsprioritäten zu fällen? Welche Evidenz ist bereits vorhanden? Welche Daten sind zu sammeln? Zum Beispiel werden Daten benötigt, um herauszufinden, ob die Entwicklung von Videospielen für junge Frauen eine effiziente Strategie dafür ist, die Repräsentation von Frauen in der Informationstechnologie zu erhöhen (s.  Fallstudie: Videospiele, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

Harding, S. (1991). Whose Science? Whose Knowledge?: Thinking from Women’s Lives. Ithaca: Cornell University Press.

Institute of Medicine (IOM). (2010). Women’s Health Research: Progress, Pitfalls, and Promise. Washington, D.C.: United States National Academies Press.

Kafai, Y. Heeter, C., Denner, J., & Sun, J. (2008). Pink, Purple, Casual, or Mainstream Games: Moving Beyond the Gender Divide. In Kafai, Y., Heeter, C., Denner, J., & Sun, J. (Eds.), Beyond Barbie and Mortal Kombat: New Perspectives on Gender and Gaming, pp. XI-XXV. Cambridge: Massachusetts Institute of Technology (MIT) Press.

Lenhart, A., Kane, J., Middaugh, E., Macgill, A., Evans, C., & Vitak, J. (2008). Teens’ Gaming Experiences are Diverse and Include Significant Social Interaction and Civic Engagement. Washington, D.C. : Pew Internet and American Life Project.

Oudshoorn, N. Saetnan, A. & Lie, M. (2002). On Gender and Things: Reflections on an Exhibition on Gendered Artifacts. Women’s Studies International Forum, 25 (4), 471-483.

Oudshoorn, N. (1994). Beyond the Natural Body: An Archaeology of Sex Hormones. London: Routledge.