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Woman in Science: Sandra Müller, Mathematikerin

Über Glücksgefühle in der Mathematik, den besten Zeitpunkt für Geistesblitze, das Gefühl für die Unendlichkeit, Unterricht, der die Schönheit der Mathematik vermittelt, oder warum Naivität und Unvoreingenommenheit gut für die Karriere sind, spricht die Mathematikerin Sandra Müller im Interview.

 Brustbild. Sandra Müller steht vor einer Tafel beschrieben mit mathematischen Formeln. Sie trägt ihr blondes Haar schulterlang und lächelt. Bekleidung: blaues Oberteil mit grün-weiß gemustertem Jackett.

Sandra Müller

Sandra Müller im Interview

Zahlen gibt es unendlich viele und wie man unterschiedliche Unendlichkeiten verstehen und kategorisieren kann, beschäftigt die Mathematik seit über einem Jahrhundert. Sandra Müllers Forschungsgebiet sind besonders große Unendlichkeiten, sogenannte große Kardinalzahlen, die im Zusammenhang zu tiefen und weitreichenden Fragen über die Mathematik selbst und zu Fragestellungen an den Grenzen der Beweisbarkeit stehen. Sandra Müller, die mehrfach für ihre Arbeit ausgezeichnet wurde, spricht im Interview über ihre Liebe zur Mathematik, ihre aktuelle Forschung und beantwortet Fragen zu Karriere und ihrer Vorstellung von Unendlichkeit.

Frau Müller, was lieben Sie an der Mathematik?

Sandra Müller: Ich finde es toll, dass man Mathematik quasi überall machen kann. Mehr als eine Tafel oder Zettel und Stift brauche ich zum Arbeiten für gewöhnlich nicht. Das Beste an der Mathematik ist allerdings das unbeschreibliche Gefühl, wenn man ein Problem gelöst hat. Häufig braucht es länger bis man die richtige Idee hat und man probiert zunächst viele Dinge, die nicht funktionieren. Aber manchmal habe ich dann auf einmal eine neue Idee und sehe sehr schnell, dass diese funktionieren muss. Meistens stimmt meine Intuition dann auch. Dieses Glücksgefühl, wenn man etwas Neues versteht und das mathematische Bild vor dem inneren Auge sich vervollständigt, das belohnt für die vielen Fehlversuche und liefert auch die Energie, die Resultate am Ende im Detail auszuarbeiten und zu prüfen. Dafür braucht man dann wieder viel Geduld und „mathematisches Handwerkszeug“.

Sie haben einmal in einem Interview gesagt, dass Sie als Forscherin immer das mathematische Problem, an dem Sie gerade arbeiten, mit sich herumtragen. Was tragen Sie gerade mit sich herum?

Sandra Müller: Ich arbeite daran, neue Verbindungen zwischen zwei Forschungsgebieten in der Mengenlehre zu finden. Das eine Gebiet nennt sich „Determiniertheitsaxiome“. Dabei geht es um die Existenz von Gewinnstrategien in bestimmten unendlich langen Spielen mit zwei Personen. In dem anderen Gebiet spielen sogenannte „große Kardinalzahlen“ eine zentrale Rolle. Dies sind sehr große unendliche Objekte mit starken Eigenschaften. Wenn man solche unterschiedlichen Dinge miteinander verbinden möchte, dann ist es sicher nicht überraschend, dass man dafür komplizierte Methoden und lange Beweise benötigt. Ich konnte vor kurzem große Kardinalzahlen aus einem speziellen Determiniertheitsmodell gewinnen und erarbeite derzeit die genauen Details für diese Konstruktion.

… und wann fallen Ihnen die besten Lösungen ein?

SM: Die besten Lösungen fallen mir manchmal spätabends ein. Wenn ich schon müde bin und kurz davor aufzugeben, habe ich manchmal noch eine verrückte Idee. Ob sie wirklich funktioniert, merke ich dann aber meist erst am nächsten Morgen, wenn ich in meinem Büro am Schreibtisch sitze oder an der Tafel stehe.

Was werden Sie gelöst haben und welche Bedeutung bzw. Auswirkung wird die Lösung haben? 

SM: Mein Ziel für die nächsten Jahre ist es Determiniertheitsmodelle besser zu verstehen und wie im aktuellen Resultat große Kardinalzahlen aus der Existenz von starken Modellen mit Gewinnstrategien zu gewinnen. Ein solcher Zusammenhang zwischen Determiniertheit und großen Kardinalzahlen hat in der Vergangenheit schon zahlreiche Anwendungen in der Mengenlehre und anderen Gebieten der Mathematik inspiriert. Konkret ist es mein Ziel, Determiniertheitsaxiome für sogenannte Woodin Grenzwerte von Woodin Kardinalzahlen zu entwickeln. Dies würde unser Verständnis an den Grenzen der Beweisbarkeit auf ein neues Level heben, da wir, darauf aufbauend, dann Techniken entwickeln können, um zum Beispiel die Stärke des Proper Forcing Axioms zu bestimmen. Dies ist eine technische Aussage, die sehr viele Probleme in der Mathematik beantwortet, von denen bekannt ist, dass sie in der „normalen mathematischen Umgebung“ nicht beantwortet werden können.

Wie stellen Sie sich die Unendlichkeit vor?

SM: Das ist eine sehr schwierige Frage, ich würde sagen „gar nicht“. Es klingt beinahe paradox: Um etwas über die Unendlichkeit zu verstehen, benötigen wir formale Mathematik, da wir sie uns nicht vorstellen können. Anderseits beruhen viele Ideen der formalen Mathematik auch auf Bildern und Intuitionen. Im Laufe der Jahre bekommt man ein Gefühl für unendlich große Objekte und man kann mit Hilfe dieser Erfahrung dann Ideen entwickeln, welche Aussagen über die Unendlichkeit stimmen könnten. Manchmal liege ich aber auch falsch mit diesen Ideen, da die Unendlichkeit eben nichts Greifbares ist und schlussendlich nur mit formalen Methoden analysiert werden kann.

Sie sind die einzige Frau in Ihrem Forschungsbereich und eine hochbegabte Mathematikerin. Was denken Sie, warum viele Mädchen Mathematik nicht mögen? Was braucht es, damit sich das ändert?

SM: Ich denke, es stimmt nicht, dass viele Mädchen Mathematik nicht mögen. Ich glaube, sie hatten nur nicht die Möglichkeit die Schönheit der Mathematik kennenzulernen und zu erleben. Was man in der Schule im Mathematikunterricht lernt, ist zu einem großen Teil das Anwenden von Rechenregeln. Das kann man vielleicht mit dem Lernen von Vokabeln für eine Sprache vergleichen. Es ist zwar notwendig, aber damit kann man sicher keine Begeisterung für eine Sprache entwickeln. Um eine Sprache zu sprechen und ein Gefühl für sie zu bekommen muss man sie leben und verwenden. So ähnlich ist es mit der Mathematik auch, man muss sich auf sie einlassen, um eine Begeisterung entwickeln zu können. Dafür braucht es aber sehr viele Rollenvorbilder, die diese Begeisterung auch vermitteln können. Nach wie vor sieht man in den Medien und an Universitäten hauptsächlich Männer, wenn es um das Thema Mathematik geht.

Was ist und was war wichtig für Ihre Karriere?

SM: Ich hatte das große Glück, dass ich einige weibliche und männliche Vorbilder und Mentor_innen hatte. In meinem Studium hat mich ein Treffen mit einer mehrfachen Mutter und Direktorin eines Max-Planck-Instituts in Deutschland inspiriert. Davon habe ich mitgenommen, dass sich die Situation nur dann verbessern kann, wenn wir und auch unsere Kinder sichtbarer werden. Mit diesem Gedanken sage ich zum Beispiel nach Möglichkeit keine Veranstaltungen am Abend oder am Wochenende ab, sondern bringe meinen zweijährigen Sohn einfach mit.

Der wichtigste Punkt in meiner Karriere war aber vielleicht, dass ich zwar mit viel Willen und Ehrgeiz, aber auch mit einer gewissen Naivität und Unvoreingenommenheit an das Thema herangegangen bin. Ich hatte Spaß an der Mathematik und wollte alles lernen und verstehen, der Rest kam dann ganz automatisch. Im Studium habe ich meine „Sonderrolle“ als Frau in der Mathematik gar nicht wahrgenommen. Das Bewusstsein dafür, dass Männer und Frauen in der Wissenschaft auch heute noch häufig anders wahrgenommen werden, kam bei mir erst viel später. Seit diesem Punkt setze ich mich immer wieder für die Förderung von Mädchen und jungen Frauen ein, damit zukünftige junge Frauen nicht mehr gefragt werden müssen, warum sie sich denn eigentlich für Mathematik entschieden haben.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

SM: Ich wünsche mir, dass es bald eine – oder besser mehrere – weitere Frauen in meinem Forschungsgebiet gibt, damit ich einmal mit einer Frau gemeinsam an der Tafel stehen kann, um die großen Fragen in meinem Forschungsgebiet zu diskutieren.

Danke für das Gespräch!

Sandra Müller forscht am Institut für Diskrete Mathematik and Geometie, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster der TU Wien. Sie untersucht „Woodin Kardinalzahlen“ und andere große Kardinalzahlen sowie axiomatische Strukturen, in denen diese Kardinalzahlen vorkommen und was man darüber aussagen kann.
Müller schloss ihr Doktorat im Jahr 2016 an der Universität Münster, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster ab. Bis 2021 war sie Postdoc, Universitätsassistentin und L’OréalAustria Fellow an der Fakultät für Mathematik der Universität Wien. Seit 2021 ist sie im Rahmen des FWF-Karriereprogramms Elise Richter, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster am Institut für Diskrete Mathematik und Geometrie der TU Wien tätig, 2022 wurde ihr der START Preis, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster, Österreichs die höchste Auszeichnung für hervorragende junge Forscher_innen, für ihr Projekt Determinacy and Woodin limits of Woodin cardinals, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster verliehen. Zudem erhielt sie 2022 den Förderungspreis der Österreichischen Mathematischen Gesellschaft, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster, die höchste Auszeichnung für Mathematiker_innen in Österreich, und wurde in die Junge Akademie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster gewählt.

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Interview: Edith Wildmann