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"Investment oder Menschenrecht?" Gastforscherin Johanna Lilius im Interview.

Über Wohnen als Finanzprodukt, lebenswerte Städte und Kaffeehäuser. Ein Gespräch mit Gastforscherin Johanna Lilius über Wien und andere Städte.

Porträt Johanna Lilius am Strand.

Dr. Johanna Lilius ist Postdoc-Forscherin an der Aalto-Universität, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster in Helsinki, Finnland. Von August 2020 bis Juli 2021 war sie Gastwissenschaftlerin am Forschungsbereich Finanz- und Infrastrukturpolitik des Instituts für Raumplanung der TU Wien, öffnet in einem neuen Fenster. Dort beschäftigte sie sich unter anderem mit Wohnungspolitik und Stadtentwicklung in Wien.

Sozialräumliche Prozesse in Städten sowie räumliche Beziehungen innerhalb und zwischen Städten stehen seit mehr als zehn Jahren im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Wohnungsbau, Wohnungspolitik und -entwicklung, (strategische) Stadtplanung und -entwicklung, Stadtteilerneuerung, urbane Kulturen und Lebensstile sowie urbane Unternehmer_innen. Obwohl sie fest im nordischen Kontext verankert ist, hat sie als Gastwissenschaftlerin auch in Amsterdam, San Diego, Athen und zuletzt in Wien ein Verständnis für die Entwicklung von Stadtvierteln, Stadtplanung und Wohnungspolitik gewonnen.

Woher kommt Ihr Interesse für Wohnpolitik?

Johanna Lilius: Wohnen ist ein grundlegender Bestandteil unseres täglichen Lebens, und die Wohnpolitik hat Einfluss darauf, wie, wo und zu welchen Kosten die Menschen leben können. Deshalb habe ich mich dafür interessiert und herausgefunden, dass ein solches Forschungsgebiet überhaupt existiert. Mein Interesse hat sich weiter durch ein Erasmus-Austauschprojekt verstärkt, das ich 2014 an der Universität von Amsterdam absolvierte. Dort teilte ich meinen Arbeitsplatz mit einem Team von Forscher_innen aus dem Bereich Wohnpolitik – darunter Justin Kadi, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster vom Institut für Raumplanung der Technischen Universität Wien, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster – die geduldig alle meine neugierigen Fragen über das niederländische Wohnwesen beantworteten. Justin wurde später zu einem wichtigen Gesprächspartner für mich, um die jüngsten Entwicklungen in Helsinki einzuordnen, zum Beispiel über die auffällige Zunahme privater Vermieter_innen. Er ermutigte mich, in diesem Bereich weiter zu forschen. 

Gab es einen besonderen Grund, warum Sie Wien für Ihre Forschung ausgewählt haben, und wie sind Sie vorgegangen?

J.L.: Wien war aus wohnpolitischer und wohnbaulicher Sicht interessant, und ich wusste zudem, dass Justin Kadi, einer der prominentesten jungen Forscher zu Wohnfragen in Europa, hier forscht. Das waren gute Gründe hierher zu kommen. Und ehrlich gesagt haben mich auch die stimmungsvollen Wiener Kaffeehäuser überzeugt. Diese Orte sind großartig um zu lesen und schreiben.* Schließlich hatte ich das große Glück, ein Stipendium aus dem finnischen Foundations-Postdoc-Pool, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster zu erhalten. Es hat mich sehr gefreut, dass man bereit war, ein Postdoc-Jahr im Ausland für eine Mutter von drei Kindern zu unterstützen.

Sie haben Forschungen zum Thema Wohnen in verschiedenen Städten der Welt durchgeführt: Amsterdam, Athen, Helsinki und Wien. Welches sind die auffälligsten Unterschiede zwischen diesen Städten?

J.L.: Das Auffälligste ist die Ähnlichkeit: Obwohl sich all diese Städte in Bezug auf die Stadtstruktur, die Stadtentwicklung und die wohnpolitischen Entwicklungen sowie die Besitzverhältnisse unterscheiden, wird das Wohnen in allen Städten mehr und mehr Marktinteressen unterworfen. Der Finanzmarkt spielt also eine zunehmend wichtige Rolle. Die Unterschiede liegen in der Art und Weise, wie die nationalen und lokalen Regierungen mit dem zunehmenden Mangel an bezahlbarem Wohnraum umgehen. Ich bin der Meinung, dass kritische Forschung dringend nötig ist, um den politischen Entscheidungsträger_innen und der breiten Öffentlichkeit andere Erzählungen über Wohnbau zu vermitteln als die von den Finanzmarktakteur_innen gelieferten.

Wien ist stolz auf seine Wohnbaupolitik während der Zeit des sogenannten "Roten Wien, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster" (1919–1934). Wie beurteilen Sie die heutige Situation im Vergleich mit jener des „Roten Wien“?

J.L.: Sie ist heute sicherlich weniger radikal. Ich sehe auch eine Diskrepanz zwischen dem Ruf Wiens als leistbare Stadt und der Art und Weise, wie der Wohnungsmarkt, speziell für Menschen, die neu in die Stadt kommen, aussieht: befristete Verträge, enorme Makler_innengebühren und immer teurere Mieten – darüber liest man in der internationalen Presse wenig. Ich finde es jedoch bezeichnend, dass die Stadt immer noch über einen so großen öffentlichen Wohnungsbestand verfügt, der über das gesamte Stadtgebiet verteilt ist. Das hat auch für kommende Generationen einen Wert. Auch die Mietpreisregulierung im Altbaubestand ist ein bemerkenswertes Instrument.

Was sind die auffälligsten Ergebnisse Ihrer Forschung über Wien?

J.L.: Mich fasziniert, wie in Wien wohnpolitische Maßnahmen in positiver wie negativer Weise in der Gestaltung von Wohnbauten umgesetzt werden. Die Stadt legt großen Wert darauf, den Wohnbau und die Lebensweise im Sinne von neuen Lösungen in diesen Häusern weiterzuentwickeln – zum Beispiel durch "shared spaces", also gemeinschaftlich genutzte Flächen. Es gibt viele interessante Beispiele dafür, wie soziale Nachhaltigkeit in den Wohnbau integriert wird. Andererseits hätte ich nicht erwartet, dass neuer Wohnraum in Wien auch als Finanzprodukt entwickelt wird. In diesem Zusammenhang finde ich die Arbeiten von Professorin Anita Aigner über die "Vorsorgewohnung, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster" sehr interessant. 

Wenn Sie die Wohnpolitik ändern könnten, was würden Sie tun?

J.L.: Es wäre wichtig auf eine Grundfrage zurückzukommen: Was ist Wohnen? Ist es ein Investment oder ein Menschenrecht, das für jeden angemessen leistbar sein sollte? Wenn letzteres zutrifft, wie sollten dann Vermietung und Wohnungseigentum geregelt werden? In Finnland zum Beispiel diskutieren wir vor allem, wie sehr die Bewohner_innen von Sozialwohnungen von der Wohnungspolitik profitieren. Wie Eigenheimbesitzer_innen und Wohnungsinvestoren von einer günstigen Besteuerung und steigenden Wohnungspreisen und -mieten profitieren, wird weder als wohnpolitische Frage betrachtet noch von politischen Entscheidungsträger_innen oder Politiker_innen diskutiert.

Was sind Ihre Forschungspläne für die Zukunft?

J.L.: Im nächsten Frühjahr werde ich mich mit der Krisenbewältigung in der Raumplanung in Hamburg, Kopenhagen, Oslo und Helsinki befassen und das Potenzial von migrantischem Einzelhandel in der Stadterneuerung in Schweden und Finnland untersuchen. Außerdem werde ich ein populärwissenschaftliches Buch mit dem Titel „The Cost of Housing“ (Boendets pris) in meiner Muttersprache Schwedisch veröffentlichen.

Welche Stadt ist für Sie persönlich die lebenswerteste Stadt der Welt?

J.L.: Für mich gibt es mehrere lebenswerteste Städte: Athen wegen des Klimas, der wunderbaren Menschen, der Geschichte und der fantastischen Versorgungsstruktur. Man kann zu jeder Tageszeit alles bekommen, was man braucht. Gleichzeitig finde ich Helsinki lebenswert, weil es ein auf Gleichheit basierendes Schulsystem, Natur, Meer, eine gute Infrastruktur und Geschäfte mit guten Öffnungszeiten hat. Stockholm bietet das Gleiche in größerem Umfang und mit einem besseren Angebot an verschiedenen kulturellen Aktivitäten. Wien finde ich wegen seiner fantastischen Kaffeehäuser sehr lebenswert! Ich stimme auch mit meiner 18-jährigen Tochter Aurora überein, die nach einigen Wochen in der Stadt bestätigte, dass sie aus mehreren Gründen die lebenswerteste Stadt ist:

  • Wegen der Vielfalt der Kulturen in den verschiedenen Vierteln.
  • Der Einzelhandel ist nicht durch „hässliche Einkaufszentren“ dominiert.
  • Die Stadt hat eine lange Geschichte und Tradition, die authentisch geblieben ist und nicht bloß touristisch aufbereitet.
  • Wien ist schön, aber trotzdem nahbar – nicht etwa wie ein Ausstellungsobjekt in einem Museum und schließlich liegt
  • Wien in der Mitte Europas – so fühlt man sich nie klaustrophobisch.

Vielen Dank für das Interview!

 

* Wir waren neugierig zu erfahren, welches Johannas Liebelingskaffeehaus ist. Ihre Antwort: "Ich kann keine einfache Antwort darauf geben :-) Meine liebsten Kaffeehäuser sind Café Sperl, Jelinek, Ritter und Weidinger. Im Ersten Bezirk mag ich die Cafés Bräunerhof, Korb und Prückel.”