Rassisierung* und Ethnisierung*

*A. d. Ü.: Die Überschrift lautet im Original race und ethnicityRace wird oft als Rasse oder, um eine kritische Distanz zu markieren, als „Rasse" übersetzt, obwohl das deutsche Wort Rasse unumgänglich auf faschistische Ideologien, die Shoah und die nazistische Vernichtungspolitik von Roma, Sinti und anderen als minderwertig konstruierten „Volksgruppen“, das heißt „Ethnien“ verweist. Der englischsprachige Begriff race hingegen ist durch eine jahrzehntelange Geschichte der Diskussion, Problematisierung und politischen und theoretischen Umarbeitung sowie Wiederaneignung durch ethnisierte und rassisierte Sprecher_innen gekennzeichnet (obgleich der Begriff race auch in kritischen Diskursen des britischen/US-amerikanischen Raums keineswegs als absolut unproblematisch gilt). Wir haben uns im Rahmen dieser Übersetzung – außer an Stellen, wo es um eben diese problematischen Konzepte geht (etwa im Zusammenhang mit Statistiken) – für die in zeitgenössischen deutschsprachigen Rassismus-kritischen Texten verwendeten Begriffe der Rassisierung (andere zeitgenössische deutschsprachige Texte entscheiden sich für Rassialisierung oder Rassifizierung) und der Ethnisierung entschieden. „Rassisierung“ und „Ethnisierung“ machen die Praxis des Herstellens und der Konstruktion rassistischer Markierungen und Zugehörigkeiten – auch grammatikalisch – deutlich (vgl. Gender et alia, 2001).

Auf Rassisierung beruhende Merkmale sowie auf Ethnisierung beruhende Zugehörigkeitskonstruktionen sind komplexe Begriffe und werden häufig synonym verwendet. Zunächst kamen diese Begriffe gesondert zum Einsatz: „Rasse“ sollte eine biologische Eigenschaft benennen und „Ethnizität“ sollte der Versuch sein, ein kulturelles Phänomen zu benennen. Im Grundsatz ähnelt dies den Bemühungen einer Unterscheidung zwischen biologischem (Sex) und sozialem Geschlecht (Gender) zu unterscheiden. Im Unterschied zu „biologischen“ und „sozialem Geschlecht“ gibt es jedoch kaum Übereinstimmung darüber, worin sich „Rasse“ und „Ethnizität“ unterscheiden.

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Auf Rassisierung beruhende Merkmale sowie auf Ethnisierung beruhende Zugehörigkeitskonstruktionen sind komplexe Begriffe und werden häufig synonym verwendet. Ursprünglich wurden diese getrennten Begriffe entwickelt, um „Rasse“ als biologische Eigenschaft und „ethnische Zugehörigkeit“ als kulturelles Phänomen zu bezeichnen. Diese Unterscheidung ähnelt den Bemühungen, das biologische Geschlecht (Sex) vom sozialen Geschlecht (Gender) zu unterscheiden. Allerdings besteht im Gegensatz zu „Sex“ und „Gender“ wenig Einigkeit über die zentralen Unterscheidungskriterien zwischen „Rasse“ und „ethnischer Zugehörigkeit“.

“Rasse” ist eine machtvolle gesellschaftliche Kategorie, die historisch durch Unterdrückung, Sklaverei und Eroberung (– und in Europa darüber hinaus durch Faschismus und Nazismus, A. d. Ü.–) geformt wurde. Die meisten Genetiker_innen sind sich einig, dass rassisierende Taxonomien auf der Ebene der DNA falsch sind. Die genetischen Unterschiede innerhalb jeder auf der Grundlage rassisierender Kriterien gegründeten Gruppe oft größer sind als zu anderen derartigen Gruppen. Die meisten genetischen Marker unterscheiden sich zwischen den sogenannten „Rassen“ nicht hinreichend, um in der medizinischen Forschung von Nutzen zu sein (Duster, 2009; Cosmides, 2003).

Menschen variieren stark im Hinblick auf Wohlstand, Belastung durch Umwelttoxine und Zugang zu medizinischer Versorgung. Diese Faktoren können gesundheitliche Gefälle verursachen. Krieger (2000) beschreibt Unterschiede, die aus rassistischer Diskriminierung resultieren, als „biologische Expressionen von Rassenbeziehungen“ (siehe auch Bailey et al., 2017; Churchwell et al., 2020). Schwarze Amerikaner_innen zum Beispiel zeigen bei 8 der 10 häufigsten Todesursachen in den USA höhere Mortalitätsraten als andere Gruppen (Race, Ethnicity, and Genetics Working Group, 2005).

Obwohl diese Unterschiede teilweise durch die gesellschaftliche Klasse zu erklären sind, sind sie nicht auf Klassenunterschiede zu reduzieren.

Das National Institute of Medicine der USA stellte fest, dass „historisch Studien zu Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Alter, Staatsangehörigkeit, Religion und Geschlecht manchmal zu diskriminierenden Praktiken geführt haben“ (Wizemann & Pardue, 2001). Ebenso wie während des gesamten 18. und 19. Jahrhunderts eine auf „inhärenten Geschlechterunterschieden“ basierende Naturwissenschaft dazu benutzt wurde, den Ausschluss von Frauen aus Naturwissenschaft und akademischen Berufen zu begründen und Frauen die Bürger_innenrechte zu verweigern, wurde eine auf „inhärenten rassischen Unterschieden“ basierende Naturwissenschaft dazu benutzt, die fortgesetzte Unterordnung nicht-weißer Völker zu rechtfertigen (Russett, 1989; Schiebinger, 1993). Im 19. Jahrhundert wurde großer Forschungsaufwand betrieben, um zu zeigen, dass Unterschiede in der Gehirnstruktur zwischen Weißen und Schwarzen den niedrigeren Entwicklungsstand nicht-weißer Völker widerspiegelte (Tucker, 1996). Im 20. Jahrhundert spielten Diskussionen über IQ und Gehirnstruktur eine ähnliche Rolle (Gould, 1996).

Die Biologen Marcus Feldman und Richard Lewontin schreiben, dass 0,1% der genetischen Unterschiede bei Menschen auf abweichende Abstammungsregionen der Vorfahren zurückgeführt werden können. Bei der Sichelzellanämie zum Beispiel sollte der Zusammenhang mit der geographischen Abstammung und nicht mit der Rasse gedacht werden. Sichelzellanämie entstand an Orten, wo Malaria prävalent war oder ist, unter anderem im subsaharischen Afrika, im Mittelmeerraum und auf dem indischen Subkontinent. Insofern können Informationen über die biogeographische Abstammung Ärztinnen und Ärzten bei der medizinischen Diagnose helfen (Koenig et al., 2008). 

Auf Ethnisierung beruhende Zugehörigkeitskonstruktionen bezeichnen Gruppen mit gemeinsamer identitätsbasierter Abstammung, Sprache oder Kultur, etwa irisch, fidjianisch oder sioux. Sie beruhen häufig auf Religion, Überzeugungen und Bräuchen ebenso wie Erinnerungen an Migration oder Kolonisierung (Cornell & Hartmann, 2007). In der wissenschaftlichen Analyse kann es wichtig sein, zumindest grob zwischen auf Rassisierung beruhenden Merkmalen und auf Ethnisierung beruhenden Zugehörigkeitskonstruktionen zu unterscheiden. Die Anthropologin Fatimah Jackson (2003) liefert ein gutes Beispiel für kulturelle Praktiken, die fälschlicherweise als biologische Unterschiede interpretiert werden. Sie beschreibt, dass mikroethnische Gruppen im Mississippidelta Sassafras in ihrer traditionellen Küche verwenden. Sassafras erhöht die Anfälligkeit für Bauchspeicheldrüsenkrebs. Mediziner_innen, die kulturelle und biologische Merkmale nicht sorgfältig aufschlüsseln, könnten diesen geographischen Cluster von Bauchspeicheldrüsenkrebs als mit einem genetischen oder auf Rassisierung beruhenden Merkmal zusammenhängend deuten, während die Krankheit in Wirklichkeit aus kulturellen Praktiken hervorgeht – in diesem Fall gemeinsame Ernährungsgewohnheiten.

1. Die Richtlinie des Rates der Europäischen Union 2000/43/EC vom 29. Juni 2000 befürwortet das Prinzip der Gleichbehandlung von Menschen ohne Unterschied der Rasse oder ethnischen Herkunft. Sie wird von der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz gefördert.

2. Im Jahr 2020 beschloss die EU ihren Aktionsplan gegen Rassismus 2020-2025.

Das NIH fordert die Berücksichtigung von Rasse und ethnischer Herkunft als Variablen in medizinischer Forschung, um Gesundheit und Wohlergehen aller Amerikaner_innen sicherzustellen. Das NIH fordert, dass:

1. „Angehörige von Minderheitengruppen und ihrer Teilpopulationen in allen vom NIH geförderten Forschungsvorhaben berücksichtigt werden.“ NIH Revitalization Act of 1993, Public Law 103-43, Subtitle B—Clinical Research Equity Regarding Women and Minorities, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

2. Forscher_innen Studiensubjekte nach rassischen und ethnischen Kategorien klassifizieren ((American Indian or Alaska Native, Asian, Black or African American, Hispanic or Latino, Native Hawaiian or Other Pacific Islander und White). Racial and Ethnic Categories and Definitions for NIH Diversity Programs and for Other Reporting Purposes., öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

Diese Richtlinien präzisieren, dass Wissenschafter_innen sich auf die Eigenidentifikation der Subjekte stützen müssen, um Daten über Rasse und ethnische Zugehörigkeit zu sammeln, und dass Auskunftspersonen Gelegenheit erhalten müssen, mehr als eine Rassenbezeichnung zu wählen. Diese Richtlinien betonen, dass „die Kategorien in dieser Klassifizierung soziopolitische Konstrukte sind und nicht als anthropologische Wesenszüge interpretiert werden sollten.“

1. Die NIH-Richtlinien erlauben Patient_innen die Auswahl von mehr als einer „Rassenbezeichnung“; ungefähr 1 von 5 Amerikaner_innen identifiziert sich als gemischtrassig, wodurch das Treffen klarer Unterscheidungen in der Forschung erschwert wird.

2. Die Definition von ethnischen Gruppen kann eine größere Homogenität unter Bevölkerungsgruppen implizieren als tatsächlich besteht. Zum Beispiel unterscheidet das staatliche niederländische Statistikamt (CBS) zwischen zwei Kategorien von Einwanderern (allochtonen): jene mit einem westlichen und jene mit einem nicht-westlichen ausländischen Hintergrund. Die nicht-westliche Kategorie schließt Menschen aus so unterschiedlichen Regionen wie Afrika, Lateinamerika und Asien ein (Centraal Bureau voor de Statistiek, 2011).

3. Ethnisch und rassisch markierte Teilpopulationen, die in einzelnen europäischen Ländern oder den USA relevant sind, sind dies meist auf globaler Ebene nicht.

4. Die Betonung von rassisierenden Zuschreibungen spielt sozioökonomische und Umweltursachen von gesundheitlichen Ungleichheiten herunter. Die USA sammeln keine Statistiken aufgrund von:

a. sozioökonomischen Faktoren wie Bildungsgrad, wirtschaftliche Ressourcen oder gesundheitliche Folgen von systematischer Diskriminierung; oder

b. Umweltfaktoren wie Wohnqualität oder Belastung durch Giftstoffe.

Ein Begriffsverzeichnis findet sich bei: American Heart Association, Structural Racism and Health Equity Language Guide (2021), öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster.

Bailey, Z. D., Krieger, N., Agénor, M., Graves, J., Linos, N., & Bassett, M. T. (2017). Structural Racism and Health Inequities in the USA: Evidence and Interventions. The Lancet, 389(10077), 1453-1463.

Churchwell, K., Elkind, M. S., Benjamin, R. M., Carson, A. P., Chang, E. K., Lawrence, W., ... & American Heart Association. (2020). Call to Action: Structural Racism as a Fundamental Driver of Health Disparities: A Presidential Advisory from the American Heart Association. Circulation, 142(24), e454-e468.

Centraal Bureau voor de Statistiek (CBS). (2011). Allochtoon. http://www.cbs.nl/nl-NL/menu/methoden/toelichtingen/alfabet/a/allochtoon.htm, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster.

Cornell, S., & Hartmann, D. (2007). Ethnicity and Race: Making Identities in a Changing World. Thousand Oaks: Pine Forge Press.

Cosmides, L., Tooby, J., & Kurzban, R. (2003). Perceptions of Race. TRENDS in Cognitive Science, 4 (7), 173-179.

Duster, T. (2009). Debating Reality and Relevance. Science324 (5931), 1144-145.

European Commission against Racism and Intolerance (ECRI). (1998). ECRI General Policy Recommendation Number 4 on National Surveys on the Experience and Perception of Discrimination and Racism from the Point of View of Potential Victims. Strasbourg: Council of Europe.

European Parliament. (1995). Directive 95/46/EC of the European Parliament and of the Council of 24 October 1995 on the Protection of Individuals with Regard to the Processing of Personal Data and on the Free Movement of Such Data. Official Journal of the European Communities, L281, 31.

Feldman, M. & Lewontin, R. (2008). Race, Ancestry, and Medicine. In Revisiting Race in a Genomic Age. Ed. B. Koenig, Sandra S., S. Richardson. (Eds.) New Brunswick:  Rutgers University Press, 2008, 89-101.

Gould, S. J. (1996). The Mismeasure of Man. New York: Norton.

Jackson, F. (2003). Ethnogenetic Layering: A Novel Approach to Determining Environmental Health Risks Among Children from Three U.S. Regions. Journal of Children’s Health, 1 (3), 369–386.

Koenig, B., Lee, S., Richardson, S. (Eds.) (2008) Revisiting Race in a Genomic Age. New Brunswick:  Rutgers University Press.

Krieger, N. (2000). Refiguring “Race”: Epidemiology, Racialized Biology, and Biological Expressions of Race Relations. International Journal of Health Services, 1 (30), 211-216.

Pardue, M., & Wizemann, T. (Eds.) (2001). Exploring the Biological Contributions to Human Health: Does Sex Matter? Washington D.C.: National Academy Press.

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Schiebinger, L. (2004). Nature’s Body: Gender in the Making of Modern Science. New Brunswick: Rutgers University Press.

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Tucker, W. (1996). The Science and Politics of Racial Research. Champaign: University of Illinois Press.