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Was darf ein Menschenleben kosten?

Kann man in der Corona-Krise Kosten und Menschenleben gegeneinander aufrechnen? Prof. Michael Getzner erklärt, warum das problematisch sein kann, aber trotzdem geschieht.

Ein Portrait von Prof. Michael Getzner. Er trägt Brille. Millimeterhaarschnitt, Sakko und Krawatte.

Prof. Michael Getzner

Es wird teuer – so viel steht bereits fest. Die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Epidemie haben die Wirtschaft auf der ganzen Welt schwer getroffen. Die ökonomischen Kosten sind hoch, die Beschneidung der Grundrechte geht tief. Gleichzeitig wird allerdings deutlich, dass diese Maßnahmen höchst wirksam waren: Die exponentielle Ausbreitung der Krankheit konnte gestoppt werden. Müssen wir uns also entscheiden was uns wichtiger ist – Geld oder Leben?

Nein, das müssen wir nicht, findet Prof. Prof. Michael Getzner, Ökonom am Institut für Raumplanung der TU Wien. Er erklärt, wie solche Abwägungen zustande kommen, warum sie in der aktuellen Situation nicht zielführend sind und warum man auch die Ethik nicht außer Acht lassen darf.

Der Wert eines statistischen Lebens

„Viele Wissenschafter und Wissenschaftlerinnen auf der ganzen Welt versuchen nun, die wirtschaftlichen Kosten der COVID-Epidemie zu beziffern“, sagt Michael Getzner. „Und natürlich stößt man dabei auf die Frage: Lohnen sich die harten Maßnahmen überhaupt? Mit anderen Worten: Ist die Kur nicht schlimmer als die Krankheit?“

Das lässt sich nicht einfach mit mathematischen Formeln ermitteln, aber es gibt eine Reihe von Bewertungsverfahren, um den Wert geretteter Menschenleben ökonomisch zu messen – man spricht dann vom „Wert eines statistischen Lebens“.

Man kann zum Beispiel Menschen darüber befragen, wie viel Geld sie dafür verlangen würden, ein minimales Sterberisiko zu akzeptieren. Angenommen, die Wahrscheinlichkeit, bei einer gefährlichen Tätigkeit zu sterben, liegt bei 1:100.000. Wenn Menschen im Durchschnitt bereit sind, diese Gefahr für einen Betrag von € 100 auf sich zu nehmen, ergibt sich daraus ein statistischer Wert von 10 Millionen Euro für ein Leben. „Ähnliche Überlegungen gibt es auch beim Infrastrukturbau, wenn man etwa überlegen muss, wie viel Geld man zu investieren bereit ist, um die Unfallwahrscheinlichkeit auf einem gefährlichen Autobahnstück zu reduzieren“, sagt Getzner.

In der Gesundheitsökonomik werden ebenfalls derartige Abwägungen getroffen: Zu welchen Kosten können je nach Art der Behandlung wie viele Menschenleben gerettet werden? Wenn das Gesamtbudget begrenzt ist, sollte man es ganz rational dort einsetzen, wo es den größten Nutzen bringt.

Den mit solchen Abschätzungen ermittelten „Wert eines statistischen Lebens“ kann man dann mit dem wirtschaftlichen Verlust vergleichen, der durch lebensrettende Maßnahmen entsteht. „Wenn man bereit ist, auf diese Weise Menschenleben gegen Kosten aufzurechnen, dann zeigt sich: Die aktuellen COVID-Maßnahmen sind zwar teuer, aber sie lohnen sich sehr schnell – für Österreich ist dies bereits bei einigen tausend geretteten Menschenleben der Fall. Und vermutlich vermeiden wir mit den derzeitigen Maßnahmen sogar noch viel mehr Todesfälle“, vermutet Getzner. „Zudem können die wirtschaftlichen Schäden durch eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus ebenfalls enorm sein. Untersuchungen haben nachgewiesen, dass sich Städte, die rasch eine Pandemie kontrollieren, wesentlich rascher wirtschaftlich erholen, als Regionen, in denen sich ein Virus unkontrolliert ausbreitet.“

Für Moral gibt es keine Formel

Eine Zahl für den Wert eines statistischen Lebens festzusetzen, klammert Fragen der Ethik zunächst völlig aus – die Ökonomik liefert kein Werturteil, sondern bloß eine rationale Methode, die fundierte Vergleiche erlaubt. Das Rechenergebnis kann wiedergeben, welcher Wert in der Gesellschaft einem statistischen Leben zugemessen wird – es ist kein mathematisch präzises Werturteil.

Aus ethischer Sicht gibt es mit dem „Wert eines statistischen Lebens“ ganz grundsätzliche Probleme: Wenn ein Mensch unter großem Druck steht, weil er arbeitslos ist und eine Familie zu ernähren hat, dann ist er notgedrungen für relativ kleine Beträge bereit, ein Risiko auf sich zu nehmen. Ebenso ergeben sich bei solchen Studien ganz unterschiedliche Werte in unterschiedlichen Ländern: Das Einkommen beeinflusst, wie viel man für die Verminderung eines Gesundheitsrisikos zu zahlen bereit ist. „Trotzdem würde wohl fast jeder von uns dem Grundsatz zustimmen, dass jedes Menschenleben gleich viel wert sein muss“, sagt Michael Getzner. „Der Wert des statistischen Lebens ist daher immer an den ökonomischen, sozialen, rechtlichen und institutionellen Kontext gebunden und nicht einfach vergleich- und übertragbar, weder zwischen Ländern noch zwischen verschiedenen Risiken.“

Zusätzlich müsste man auch andere wichtige Werte in die Überlegungen einbeziehen: Wenn wir die Epidemie nicht bremsen, steht man in den Krankenhäusern zwangsläufig vor der Entscheidung, wer gerettet werden soll und wer nicht. „Jeder würde zustimmen, dass eine solche Situation vermieden werden muss – und wir wären wohl auch bereit, eine hohe Geldsumme einfach nur dafür zu investieren, dass genau das nicht notwendig wird“, gibt Getzner zu bedenken.

Die Ökonomie der Spitalsbetten

Auch wenn niemand hart und gefühllos den Wert von Menschenleben beziffern möchte – implizit, ohne dass es in dieser Deutlichkeit ausgesprochen wird, geschieht das ganz automatisch, etwa wenn über Einsparungen im Gesundheitssystem diskutiert wird. „In vielen Ländern wurde in den letzten Jahren die Zahl der verfügbaren Krankenhausbetten reduziert“, sagt Michael Getzner. „Österreich steht hier noch immer vergleichsweise gut da: Wir haben ca. 750 Betten pro 100.000 Personen. Davon profitieren wir nun in der Krise. Andere Länder wie Schweden, Großbritannien oder Spanien haben nur 200–300 Betten pro 100.000 Personen.

Ein gewisses Maß an Redundanz mag zwar in ruhigen Zeiten ineffizient erscheinen, kann aber in einer Krise die Resilienz eines Systems deutlich erhöhen. „Außerdem zeigt sich, dass Länder mit einem starken wohlfahrtsstaatlichen System der öffentlichen Krankenversicherung tendenziell einen besseren Verlauf der Pandemie vorzuweisen haben“, sagt Getzner. „Offensichtlich erhöht ein solidarisches Gemeinwesen auch die Resilienz in einer derartigen Krise.“ Die COVID-Krise wird in diesem Bereich wohl zu einem Umdenken führen, glaubt Getzner.

Lernen für die Klimakrise

Nicht nur in der Corona-Krise muss man ökonomische Kosten gegen langfristige positive Auswirkungen abwägen – dasselbe Kalkül brauchen wir auch in der Klimakrise, meint Michael Getzner. „Auch die Klimakrise wird für viele Menschen eine Gesundheitskrise darstellen, zum Beispiel wenn es in Städten zu hitzebedingten Krankheiten und Todesfällen kommt. Auch hier wird man harte Abwägungen vornehmen müssen. Vielleicht können wir aus der Corona-Krise einiges lernen – etwa, dass rasches, engagiertes Handeln tatsächlich großen Nutzen bringen kann.“

Kontakt

Prof. Michael Getzner
Institut für Raumplanung
Technische Universität Wien
T +43-1-58801-280320