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Vielfältige Elektronenzustände

Forschende des Spezialforschungsbereichs „TACO“ fanden eine überraschende Vielfalt von Elektronenzuständen auf polaren Kristalloberflächen.

Michele Reticcioli sitzt in seinem Büro.

© Universität Wien

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Michele Reticcioli, Erstautor der Studie.

Skizze, die den Ladungstransfer zwischen den Atomschichten abbildet.

© Michele Reticcioli, Universität Wien

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Überschüssige freie Ladungen auf der polaren Oberfläche von KTaO3. Links: Ein Modell, das den Ladungstransfer zwischen Atomschichten skizziert, der an der Oberfläche unterbrochen wird und die nicht kompensierte Überschussladung verursacht. Rechts: Bilder der Ladungsdichtewelle (oben) und Zustände von Polaronen (unten) aus experimenteller Rastertunnelmikroskopie und Dichtefunktionaltheorieberechnungen.

Die Eigenschaften einer Oberfläche werden durch mehrere Faktoren beeinflusst: Durch die Anordnung von Atomen ebenso wie durch die Zustände der Elektronen, die sich an der Oberfläche eines Kristalls befinden. Dadurch werden auch die chemischen Reaktionen beeinflusst, die an der Oberfläche ablaufen können. In einigen Fällen kann die Oberfläche dabei die Rolle eines Katalysators einnehmen und Reaktionen so begünstigen.

Insbesondere polare Kristalloberflächen sind nicht nur für die Chemie interessant, sondern auch für die Physik. Im Rahmen des FWF-geförderten Spezialforschungsbereichs TACO, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster (TAming COmplexity in materials modeling) forschen Wissenschaftler_innen von TU Wien und Universität Wien gemeinsam an diesen Strukturen. In der Fachzeitschrift „Nature Communications“ berichtete das Team kürzlich über die überraschende Vielfalt an elektronischen Zuständen, die sie auf einer typischen polaren Oberfläche entdeckt haben.

Polare Oberflächen

Bestimmte Kristalle haben eine polare Oberfläche und können freie Ladungen – also Elektronen – ausbilden. Solche Materialien werden auch Ferroelektrika genannt und können ein permanentes elektrisches Feld ausbilden – ähnlich wie Permanentmagnete ein ständiges magnetisches Feld haben. Ferroelektrika sind für die Katalyseforschung besonders spannend, da die polare Eigenschaft eine weitere Möglichkeit darstellt, die auf der Oberfläche ablaufenden Reaktionen gezielt zu beeinflussen.

Das Forschungsteam hat dafür den Perowskitkristall KTaO3, auch als Kaliumtantalat bekannt, unter die Lupe genommen. Die „Lupe“ im Werkzeugkasten der Forschenden setzt sich dabei aus Rastertunnelmikroskopen (RTM) einerseits und Modellrechnungen andererseits zusammen. Im Wechselspiel zwischen Experiment und Theorie erlaubt dies ein genaues Verständnis der Strukturen an der Kristalloberfläche.

Klar begrenzte und lokalisierte Ladungen

Auf einem im Vakuum gespaltenen KTaO3-Kristall entstehen atomar kleine Terrassen mit der Zusammensetzung KO (Kaliumoxid) bzw. TaO2 (Tantaldioxid). Die bisher in der wissenschaftlichen Community gängige Annahme war, dass die erwähnten freien Ladungen auf der um eine Atomlage tiefer liegenden TaO2-Terrasse ein zweidimensionales Elektronengas bilden. Das würde bedeuten, dass sich die Elektronen völlig gleichförmig über die Oberfläche verteilen – ganz ähnlich wie die Elektronen in einem herkömmlichen Metallstück, nur auf zwei statt auf drei Dimensionen beschränkt. Jedoch legten bereits die RTM-Aufnahmen der Experimentalphysiker_innen im Team nahe, dass diese verbreitete Annahme nicht stimmen kann: Die Oberflächenstrukturen waren zu divers, um sie mit einer gleichförmigen Verteilung erklären zu können. Vielmehr zeigte sich, dass die Ladungen räumlich klar begrenzt und lokalisiert vorliegen. Diese Zustände der Elektronen nennen sich im Fachjargon „Polaronen“, „Bipolaronen“ und „stehende Ladungsdichtewellen“ (engl. charge density wave). Polaronen und Bipolaronen kann man sich als einzeln oder paarweise fest an Atome angelagerte Elektronen vorstellen, die zu einer leichten Verzerrung der lokalen Kristallstruktur führen.

Simulation verrät, wie Elektronen sich anordnen

Die Theoretiker_innen im Team gingen dem in ihren Simulationen genauer auf den Grund. Die dafür verwendete Methode nennt sich Dichtefunktionaltheorie und wurde von dem aus Wien stammenden Chemie-Nobelpreisträger Walter Kohn entwickelt. Mit dieser näherungsweisen Berechnungsmethode sind die an sich hoch komplexen Rechnungen zwar immer noch aufwändig, können aber von Supercomputern wie in diesem Fall dem Vienna Scientific Cluster bewältigt werden. Die Berechnungen konnten die experimentell begründeten Vermutungen bestätigen: Eine Anordnung der Elektronen in lokalisierter Form als Polaronen, Bipolaronen bzw. Ladungsdichtewellen (und Kombinationen davon) ist energetisch günstiger als ein zweidimensionales Elektronengas in der TaO2-Schicht. Auch die Verteilung der im Experiment gemessenen Zustandsdichten der Elektronen konnte durch die Theorie bestätigt werden.

Der neuartige und überraschende physikalische Effekt könnte dazu genutzt werden, um die ferroelektrische Polarisation der Kristalloberfläche zu beeinflussen. Er könnte auch wichtig für die zukünftige Anwendung in der Katalyse sein. Von manchen katalytischen Reaktionen verspricht man sich zum Beispiel einen wertvollen Beitrag zum Klimaschutz, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster.

Originalpublikation

Reticcioli et al. (2022): Competing electronic states emerging on polar surfaces, Nature Communications. DOI: https://doi.org/10.1038/s41467-022-31953-6, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

Rückfragehinweis

Dr. Stefan Uttenthaler
Forschungsbereich Surface Physics
Technische Universität Wien
+43 1 58801 13450
stefan.uttenthaler@tuwien.ac.at

Dr. Michele Reticcioli
Computergestütze Materialphysik
Universität Wien
+43 1 4277 73317
michele.reticcioli@univie.ac.at

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Michele Reticcioli: Competing electronic states emerging on polar surfaces (NatCommun)