„Mit der ersten Nummer der Austrian Management Review starten wir eine Buchreihe, mit der Erkenntnisse aus dem Wissenschaftssystem für Praktikerinnen und Praktiker zugänglich gemacht werden sollen. In der Managementlehre wird zur Zeit das Thema des Theorie-Praxis-Transfers und damit auch die Frage nach der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Relevanz akademischer Forschung kontroversiell diskutiert. Warum werden ausgerechnet in einer angewandten akademischen Disziplin diese Legitimitätsfragen virulent?”
Der Managementwissenschaft wird in der Tat massiv vorgeworfen, eine Forschung zu betreiben, die ohne Relevanz für die Praxis ist. In den Anfängen dieser Wissenschaft, als diese in Europa noch nicht in Universitäten, sondern in Handelshochschulen angesiedelt war, gab es dieses Problem nicht. Viele Dozentinnen und Dozenten kamen aus der Praxis und unterrichteten Ansätze, welche sich dort aus ihrer Sicht bewährt hatten. Die Professoren arbeiteten eng mit Praktikerinnen und Praktikern zusammen und lehrten, welche aus dieser Zusammenarbeit hervorgegangenen Ansätze sich als hilfreich erwiesen hatten. „Handwerkliches“ wie Buchhaltung oder kaufmännische Korrespondenz nahm einen breiten Raum in der Lehre ein. Dieses pragmatische Vorgehen stieß auf Kritik der etablierten Wissenschaften, vor allem als Handelshochschulen in Universitäten eingegliedert wurden und das Promotionsrecht erhielten. In den USA brachten Ende der 50er Jahre zwei bedeutende Stiftungen – die Ford Foundation und die Carnegie Foundation – Berichte heraus, in denen den Business Schools bescheinigt wurde, sie seien bessere Berufsschulen, mit Wissenschaft habe ihr Treiben nichts zu tun. Es wurde die Überzeugung geäußert, dass eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung bessere Lösungen für die Praxis generieren könne. Beträchtliche Mittel zur „Verwissenschaftlichung“ der Managementwissenschaft wurden zur Verfügung gestellt. Die amerikanischen Business Schools rekrutierten daraufhin viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Disziplinen, deren Wissenschaftlichkeit nicht angezweifelt wurde: vor allem aus den Bereichen Psychologie, Soziologie, Mathematik und Volkswirtschaft. Und die brachten das, was Wissenschaft nach dem generellen Verständnis von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern so ausmacht in die Managementwissenschaft: Theorien und wissenschaftliche Methoden.
Die europäischen Wirtschaftsfakultäten eiferten den amerikanischen nach. Die Managementwissenschaft strebte nun nicht mehr danach, Lösungen für spezifische Probleme der Praxis zu generieren, sondern danach, Theorien zu entwickeln und allgemeingültige Erkenntnisse zu gewinnen. Ihre Forschungsprobleme bezogen die Managementwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler nicht mehr aus der Praxis, sondern aus dem Diskurs der Scientific Community. War es nicht vor allem die gegenseitige Kritik der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Naturwissenschaft vorangebracht hat? Die Hypothese, die der Kollege bzw. die Kollegin X aufgestellt hat, ist nicht richtig aus der Theorie abgeleitet. Die Methode, die der Kollege bzw. die Kollegin Y zur Überprüfung einer Hypothese eingesetzt hat, ist nicht die angemessene. Die vom Kollegen bzw. der Kollegin Z entwickelte Theorie leistet nicht das, was sie in Aussicht stellt, usw. Ihre Beiträge zu diesem Diskurs veröffentlichten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in neu gegründeten wissenschaftlichen Zeitschriften, in denen die Praktikerinnen und Praktiker ihre Probleme nicht wiederfanden und die sie deshalb auch kaum abonnierten. Dabei stellen Ma-nagementwissenschaftler/innen aber stets in Aussicht, dass die von ihnen ermittelten Erkenntnisse, bspw. Erkenntnisse zur Motivation, zur Gestaltung der Organisation oder Kreativität letzten Endes auch der Praxis zugutekommen, so wie dies auch für Erkenntnisse der Naturwissenschaften gilt, die der Architektur, dem Maschinenbau oder der Entwicklung wertvolles Wissen an die Hand gaben. Der Eindruck, dass mit anspruchsvollen Theorien und Methoden nützliches Wissen für die Praxis erzeugt wird, liegt besonders dann nahe, wenn Managementforscherinnen und -forscher mit solchen Theorien und Methoden Erfolgsfaktoren empirisch erforschen, etwa Erfolgsfaktoren des Marketing oder der Mitarbeitermotivation.
„Beobachten wir hier einen Ausdifferenzierungsprozess zweier unterschiedlicher Systeme, nämlich Wirtschaft und Wissenschaft? Und wenn ja, lässt sich der Prozess umkehren, um wechselseitig relevanter zu sein oder bedarf es eigener intermediärer Systeme, z.B. wissenschaftnaher Beraterinnen und Berater, die eine Übersetzungsfunktion ausüben?“
Wissenschaft und Wirtschaft sind zwei Systeme, die auf der Basis unterschiedlicher Logiken funktionieren. In der Wissenschaft ist das dominierende Kriterium, mit dem Vorschläge bewertet werden, die „Wahrheit“. Es geht darum, welche empirischen Befunde, welche Hypothesen, welche Theorien die Wirklichkeit auf allgemeingültige Weise zutreffend beschreiben. In der Wirtschaft ist das dominierende Kriterium Erfolg (Gewinn, Umsatz, Marktanteile, Shareholder Value usw.). Praktikerinnen und Praktiker sind nicht daran interessiert, wissenschaftliche Wahrheit zu mehren. Sie fällen laufend Entscheidungen – Entscheidungen zur Strategie, zu Produktions-verfahren, zur Personalpolitik usw. – und bei jeder Entscheidung geht es ihnen darum, diejenige Alternative zu wählen, die den Erfolg des Unternehmens am besten fördert. Darum ringen sie in ihren Diskursen. Jede Entscheidung ist auf den spezifischen Kontext des Unternehmens bezogen.
Aus der Unterschiedlichkeit der Systeme folgt, dass Argumente des einen Systems im jeweils anderen nicht direkt verarbeitet werden können. Mit Ausführungen zur Erweiterung bestimmter Theorien, die auf komplizierten statistischen Auswertungen und auf einer nicht minder komplizierten Theorie aufbauen, kann eine Managerin bzw. ein Manager nichts anfangen. Genauso wenig kann eine Wissenschaftlerin bzw. ein Wissenschaftler mit dem Argument anfangen, dass das Produkt X dringend eines Relaunches bedürfe. Beide Akteure müssen erst aus dem anderen System kommende Argumente in ihre Logik bringen, um sich mit ihnen auseinandersetzen zu können, wobei dies keine Übersetzung ist, sondern eher ein Versuch, Probleme des anderen Systems in der Logik des eigenen darzustellen. Allerdings können sich Angehörige der beiden Systeme durchaus gegenseitig auf produktive Weise irritieren. So kann die Betriebswirtschaftslehre auf Zusammenhänge aufmerksam machen, die für Managerinnen und Manager in einer bestimmten Problemsituation nicht sichtbar sind, sie kann Alternativen zur herrschenden Praxis vorschlagen, deutlich machen, dass wahrgenommene Handlungszwänge eigentlich keine sind, liebgewordene Argumentationsmuster der Praxis in Frage stellen. Wissen-schaftliche Erkenntnis vergrößert den Raum, in dem sich die Praxis ihre eigenen Lösungen sucht. Eines aber kann sie auf keinen Fall: Praktikerinnen und Praktikern die „richtige“ Lösung vorschreiben. Umgekehrt kann die Diskussion mit Praktikerinnen und Praktikern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf Zusammenhänge aufmerksam machen, die sie in ihren Ansätzen bisher nicht berücksichtigt haben. Wissenschaftsnahe Beraterinnen und Berater können „produktive Irritationen“ zwischen Wissenschaft und Praxis befördern, allerdings ziehen es die meisten von ihnen vor, leicht handzuhabende Konzepte wie die Portfolio-Analyse oder die Balanced Score Card zu verkaufen. Beraterinnen und Beratern geht es eben nicht um die „wissenschaftliche Wahrheit“, sondern auch um Erfolg ihres Beratungsunternehmens und den erzielen sie meist, indem sie ihre Klientinnen und Klienten zufriedenstellen. Nicht produktiv irritieren, sondern zufriedenstellen!
“Folgt aus Ihrer Sicht, dass Praktikerinnen und Praktiker in ihren Erwartungen Ansprüche formulieren, beispielsweise bei der Suche nach “best practices”, die aus der Wissenschaft nicht eingelöst werden können, auch, weil jedes Unternehmen im Wettbewerb über die Schaffung von Unterschieden und weniger über die Anpassung an allgemeine Trends Vorsprünge erzielen kann?”
Ja, das ist zweifelsohne so. Die Managementwissenschaft erstellt eine Studie nach der anderen, um „Erfolgsfaktoren“ ausfindig zu machen. Es kommt immer etwas anderes raus, was ja nicht verwunderlich ist, weil Wissenschaftler/innen mit unterschiedlichen Theorien und Methoden arbeiten und die Branchen sehr unterschiedlich sind. Auch ändern sich relevante Bedingungen laufend, weil die angesagten Managementmoden wechseln, Mergers durchgeführt werden, die Wirtschaft eine Krise durchmacht oder ein Hoch erlebt. Würde die Wissenschaft tatsächlich Erfolgsfaktoren identifizieren, wären diese bald keine mehr, denn alle Unternehmen würden sie anwenden, der von ihnen vermittelte Konkurrenzvorteil ginge verloren. Noch einmal: Die Wissenschaft kann Anregungen geben, den Stein der Weisen zum ultimativen Erfolg hat sie nicht zu bieten. Welche ihrer Anregungen sich als hilfreich erweisen, zeigt sich beim Ausprobieren in der Praxis. Wenn die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das selbst herausbekommen könnten, wären sie allesamt erfolgreiche Unternehmerinnen und Unternehmer, zumindest im Zweitberuf.
“Dies wirft natürlich die Frage auf, warum in anderen Wissenschaftsdisziplinen, wie etwa in der Medizin oder in den Ingenieurswissenschaften, keine mit der Managementwissenschaft vergleichbare Kluft zwischen Theorie und Praxis virulent wird?”
Tatsächlich betreiben Medizinische Fakultäten Forschung, die auf neue Methoden zu Diagnose, Prävention und Therapie zielt. Medizinerinnen und Mediziner waren schon immer direkt mit Patientinnen und Patienten konfrontiert, an denen sie neue Methoden ausprobieren konnten. Im Gegensatz dazu ist die Managementforschung getrennt von den Orten, an denen ihr Wissen ggf. zur Anwendung kommt. Sie hat Unternehmen nicht in ihren „Kliniken“ oder „Laboratorien“. Sie muss sich Zugang zu ihnen verschaffen, um neue Ansätze „testen“ zu können. Es müsste auch jeweils eine größere Zahl vergleichbarer Unternehmen sein, die alle unter demselben Problem „leiden“, um repräsentative Ergebnisse zu erzielen. Ingenieurwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler entwickeln fast ausnahmslos praktische Dinge wie Materialien zur Wärmeisolierung, Elektroantriebe für Autos oder Brückenkonstruktionen. Technische Universitäten hatten von Anfang an die Aufgabe, aufbauend auf den Naturwissenschaften praktische Anwendungen zu entwickeln. Fast alle an Technischen Universitäten durchgeführten Projekte könnten auch in den Entwicklungslabors von Unternehmen angesiedelt sein. Viele sind auch von Unternehmen finanziert.
Übrigens: Die Kluft zwischen Forschung und Praxis bedeutet nicht, dass im Managementstudium nicht praxisgerecht ausgebildet wird. Die grundlegenden praktischen Verfahren werden gelehrt. Über die Konfrontation mit der Forschung bekommen die Studierenden auch noch die Fähigkeit zur Weiterentwicklung dieser Ansätze mit auf den Weg.
“Nachdem Sie den praxisrelevanten Teil der Lehre ansprechen, drängt sich die Frage auf, welchen Stellenwert Theorien in der Management-Lehre an Universitäten einnehmen sollten?”
Wer Theorien kennt, kann besser über die bestehende Praxis reflektieren und Alternativen zu ihr generieren. Zum Beispiel: Nach der Finanzkrise wird verstärkt diskutiert, ob leistungsbezogene Boni nicht überwiegend negative Effekte auslösen. Managerinnen und Manager, die sich im Studium mit Motivations- und Agenturtheorien beschäftigt haben, wissen, dass von außen kommende (extrinsische) Belohnungen unter bestimmten Bedingungen intrinsische Motivation – Motivation, die aus dem Spaß an der Tätigkeit resultiert – verdrängen. Sie kennen auch Studien zu alternativen Ausgestaltungen von Anreizsystemen. Diese Kenntnis befähigt sie nicht zur Gestaltung des optimalen Anreizsystems, es befähigt sie aber, Alternativen zu entwickeln und mit guten Argumenten anderen gegenüber zu vertreten.
Das konstruktive Irritieren, das wir bereits als eine wichtige Funktion der Wissenschaft gegenüber der Praxis herausgestellt haben, können Absolventinnen und Absolventen, die Theorien gelernt haben, zum Teil mit sich selbst betreiben, sie können zu diesem Zweck aber auch besser mit der Wissenschaft kommunizieren.
Das Interview führte Univ.Prof. Dr. Wolfgang H. Güttel, Vorstand am Institute of Human Resource & Change Management, Johannes Kepler Universität (JKU) Linz.
Angaben zum Autor
Em. Univ.Prof. Dr. Dr. hc. mult. Alfred Kieser ist Professor Emeritus der Universität Mannheim und Gastprofessor der Zeppelin University in Friedrichshafen. Er studierte BWL und Soziologie an den Universitäten Würzburg, Köln und Pittsburgh/USA. Er ist Ehrendoktor der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Corvinus Universität Budapest. Er beschäftigt sich vor allem mit Themen wie Lernen der Organisation, Geschichte der Organisation und Organisation der Wissenschaft.