Die Kristall-Formel

Eine besonders harte Nuss in der Theorie der Kondensierten Materie konnte nun geknackt werden: Universität Tübingen, Universität Konstanz und TU Wien berechnen erstmals Korrelationsfunktionen von (Kolloid-)Kristallen.

Eine zweidimensionale Anordnung von Colloid-Teilchen. In drei Dimensionen können solche Teilchen würfelartige Strukturen ausbilden.

Eine zweidimensionale Anordnung von Colloid-Teilchen. In drei Dimensionen können solche Teilchen würfelartige Strukturen ausbilden.

Die Frage klingt zunächst ganz einfach: Wenn sich ein Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort befindet, mit welcher Wahrscheinlichkeit befindet es sich dann zu einem anderen Zeitpunkt an einem bestimmten anderen Ort? Die Antwort auf diese Frage beschreibt man mathematisch durch sogenannte „Korrelationsfunktionen“. Sie spielen in der Teilchenphysik und in der Festkörperphysik eine wichtige Rolle.

Leider sind diese Korrelationsfunktionen aber für realistische Situationen extrem schwer zu berechnen, daher musste man sich bisher oft mit groben Näherungen begnügen. Nun gelang aber einem Forschungsteam der Universität Konstanz, der Universität Tübingen und der TU Wien ein wichtiger Durchbruch: Mit großem Computeraufwand schaffte man es, die Korrelationsfunktion eines kubischen Kristalls (wie ihn etwa Kolloidteilchen bilden) explizit zu berechnen. Die Ergebnisse zeigen, dass bisherige Abschätzungen teilweise um Größenordnungen falsch lagen, und sie eröffnen bisher unmögliche Einblicke in die theoretische Materialforschung – etwa in die elastischen Eigenschaften von Kristall

Walter Kohns Dichtefunktionaltheorie

Die theoretischen Fundamente des Forschungsprojekts gehen auf den in Wien geborenen Nobelpreisträger und Ehrendoktor der TU Wien Walter Kohn zurück. Er begründete die Dichtefunktionaltheorie, einen für die Festkörperphysik bis heute sehr wichtigen Ansatz, der die elektronischen Eigenschaften von Materialien mit Hilfe der ortsabhängigen Elektronendichte beschreibt, bzw. die strukturellen und thermodynamischen Eigenschaften mit Hilfe der Teilchendichte.

„Die Dichtefunktionaltheorie sagt uns, wie man die Korrelationsfunktionen mathematisch berechnen kann, die für uns entscheidend sind“, erklärt Prof. Gerhad Kahl vom Institut für Theoretische Physik der TU Wien. „Diese Funktionen liefern uns nicht nur Aussagen über die Struktur und die Thermodynamik bestimmter Kristalle, sondern sie geben auch Auskunft über viele andere relevante Systemeigenschaften, etwa über die Auswirkung von Defekten im Kristallgitter oder zur Elastizität des Materials.“

Ersatzfunktionen: Kein guter Ersatz

Bisherige Versuche, diese Korrelationsfunktionen explizit zu berechnen, waren am immensen numerischen Aufwand gescheitert. Daher verwendete man bisher behelfsmäßig Ersatzfunktionen aus der Theorie der Flüssigkeiten – auch wenn eine Flüssigkeit physikalisch gesehen freilich etwas ganz anderes ist als ein fester Kristall.

Durch die Zusammenarbeit von Uni Konstanz, Uni Tübingen und TU Wien sowie durch einen für Grafikkarten (GPUs) trickreich optimierten Computercode gelang es mit enormem Rechenaufwand nun erstmals, die Korrelationsfunktion von kubischen Kristallstrukturen zu berechnen. Und das Ergebnis zeigt, dass die bisher verwendeten Ersatzfunktionen doch ziemlich große Mängel aufweisen: „Das sehen wir nicht nur daran, dass der Wert der Funktion in weiten Bereichen um Größenordnungen falsch war, sondern auch an Symmetrien und der Richtungsabhängigkeit der Funktion“, erklärt Gerhard Kahl. „Wenn wir unsere Ergebnisse mit Literaturdaten vergleichen, dann können wir außerdem zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen diesen Funktionen und der Defektdichte in realen Kristallen gibt. Dass es diesen Zusammenhang geben muss, war bereits bekannt, aber wir konnten diese These nun erstmals mit echten Daten untermauern.“

Präzisere Antworten auf alte Fragen

Das Forschungsprojekt wurde sowohl vom österreichischen FWF als auch von der deutschen DFG finanziell unterstützt. Die Ergebnisse sollen nun helfen, die Theorie von Kristallen besser zu verstehen. Die Korrelationsfunktionen können Auskunft darüber geben, wie etwa Fehler im Kristallgitter, die in der Praxis immer wieder auftreten, die Materialeigenschaften beeinflussen können, und wie sich die Elastizität von Kristallen sowie ihre Abhängigkeit von der Temperatur im Detail verstehen lässt.

Kontakt

Prof. Gerhard Kahl
Institut für Theoretische Physik
Technische Universität Wien
Wiedner Hauptstraße 8-10
+43 1 58801 13632
gerhard.kahl@tuwien.ac.at

Text: Florian Aigner