Die Erdrotation führt!

Am 26. August 2023 hat die von der Erdrotation bestimmte Weltzeit (UT1) die durch Atomuhren definierte koordinierte Weltzeit (UTC) überholt. UT1 führte am 10. September 2023 mit fast sieben Millisekunden vor UTC.

Zeitserie von UT1-UTC aus Very Long Baseline Interferometry vom 18. August bis zum 11. September 2023. Die geschwungene Linie überschreitet die Nulllinie am 26. August von Minus nach Plus. Die Werte gehen von -5 Millisekunden bis +7 Millisekunden.

© Vienna Center for VLBI (SBoehm)

Was ist daran besonders?

Seit 1972 wird die auf dem gleichmäßigen Takt von Atomuhren basierende koordinierte Weltzeit UTC durch Schaltsekunden an die variable Erdrotationszeitskala UT1 angepasst, bevor der Betrag der Differenz UT1-UTC 0,9 Sekunden überschreitet. Da die tatsächliche Tageslänge über viele Jahrzehnte einige Millisekunden mehr betrug als 86400 Sekunden, driftete der Parameter UT1-UTC stets vom positiven in den negativen Bereich, bis er durch eine hinzugefügte Schaltsekunde wieder in den positiven Bereich gehoben wurde. Die letzte Schaltsekunde wurde Ende des Jahres 2016 angebracht. Seit Mitte 2020 sind die Sonnentage im Durchschnitt kürzer als 86400 Sekunden. Dies hat zu einem, seit der Einführung von Schaltsekunden, nie dagewesenen Aufwärtstrend von UT1-UTC geführt, der bis heute anhält. Die Differenz UT1-UTC gelangte so am 26. August, ohne Schaltsekunde, über die Nulllinie und in den positiven Bereich. Das bedeutet die "Erduhr" geht seither vor.

Woher wissen wir das?

Parallel zu anderen Gruppen weltweit, führt der Forschungsbereich Höhere Geodäsie der TU Wien in Kooperation mit dem Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen (BEV) regelmäßige Analysen von Messdaten der Very Long Baseline Interferometry (VLBI) durch. Die Daten werden vom International VLBI Service for Geodesy and Astrometry bereitgestellt. Aus schnell verfügbaren Messeinheiten, den sogenannten Intensive Sessions, können quasi-tagesaktuelle Werte von UT1-UTC, über hochgenaue Positionen von sehr weit entfernten Radioquellen (Fixpunkte am Himmel) und Stationen auf der Erde, bestimmt werden. Die aktuell verfügbaren Intensive Sessions seit 18. August 2023 wurden mit der Vienna VLBI and Satellite Software (VieVS) analysiert. Die Ergebnisse für den Parameter UT1-UTC sind in der Abbildung gezeigt. Weitere Informationen und Abbildungen zu unseren VLBI-Aktivitäten finden Sie auf der Webseite des Vienna Center for VLBI, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster.

Sollte die Erdrotation nicht langsamer werden?

Ja, über sehr lange Zeiträume betrachtet nimmt die Drehgeschwindigkeit der Erde kontinuierlich ab und die Tageslänge zu, etwa 1,8 Millisekunden pro Jahrhundert. Gebremst wird die Rotation in erster Linie durch Reibung der hin- und herschwappenden Wassermassen der Gezeiten an Meeresböden und den Kontinentalsockeln. Außerdem unterliegt die Rotationsgeschwindigkeit periodischen und irregulären Schwankungen aufgrund von Veränderungen in Atmosphäre und Ozeanen und Vorgängen im Erdinneren. Wechselwirkungen zwischen Erdkern und Erdmantel erzeugen unregelmäßige dekadische Schwankungen, denen auch die seit 50 Jahren zu beobachtende Zunahme der Erdrotationsgeschwindigkeit zugeschrieben wird. Eine ausführlichere Behandlung der historischen Entwicklung der Tageslänge und der Schaltsekundenthematik wird zum Beispiel in Heft 2/2023 der Österreichischen Zeitschrift für Vermessung und Geoinformation, öffnet eine Datei in einem neuen Fenster gegeben (in englischer Sprache).