Geschlechtsanalyse bei Geweben und Zellen

Im Jahr 2001 stellte das US-amerikanische Institute of Medicine fest, dass „jede Zelle ein biologisches Geschlecht hat“ (Pardue et al., 2001). In den letzten zwei Jahrzehnten wurde einiger Fortschritt im Verständnis darüber erzielt, wie das biologische Geschlecht in Geweben und Zellen zu analysieren ist (Shah et al., 2014; Ritz et al., 2014; Clayton, 2016; Tannenbaum et al., 2016; Docherty et al., 2019).

Allgemeines

1. Nicht jedes Versuchsdesign muss geschlechtliche Unterschiede evaluieren. Allerdings muss bei jedem Versuch das Geschlecht der Gewebe oder Zellen vermerkt und berichtet werden, um die Reproduzierbarkeit von Versuchen zu gewährleisten und zu vermeiden, dass Ergebnisse (bei einem Geschlecht) übermäßig generalisiert und (auf das andere Geschlecht) übertragen werden (Wizemann, 2012).

2. Es ist unbedingt zu bedenken, ob die Genexpression (auf den Geschlechtschromosomen oder Autosomen) von untersuchten Zellen oder Geweben von Sexualhormonen beeinflusst wird. Die Genexpression kann durch steroide Sexualhormone im Zellkulturmedium oder durch die Hormonumgebung des Spendertieres beeinflusst sein (Veilleux et al., 2012). Zellen, die für in vitro-Versuche entnommen werden, können sich anders verhalten als in vivo. Zellmedien können das Zellverhalten beeinflussen. Zum Beispiel Phenolrot, ein häufiger pH-Indikator, weist eine östrogene Aktivität auf und kann daher Zellantworten verändern (Mauvais-Jarvis et al., 2017).

3. Es ist zu bedenken, welche Grundfrage gestellt wird und wie das Studiendesign und Ergebnisse durch das Geschlecht von Geweben und Zellen beeinflusst werden könnte. Geschlechterunterschiede müssen betrachtet werden, bevor sie ausgeschlossen werden können.

Problemdefinition und Hypothesenformulierung

• Es ist zwischen biologischem (Sex) und sozialem Geschlecht (Gender) zu unterscheiden. Das biologische Geschlecht ist genetisch ein intrinsisches Merkmal jeder Zelle eines sich geschlechtlich fortpflanzenden Organismus. Im menschlichen Gewebe kann das soziale Geschlecht Gewebe- und Zellversuche auf unterschiedlichste Weisen beeinflussen, auch wenn Gewebe und Zellen selbst kein soziales Geschlecht besitzen. So beeinflusst das soziale Geschlecht etwa Forschungsprioritäten, Forschungsdesigns und die Entwicklung von Zellen und Geweben, bevor sie Spender_innen entnommen werden. In Untersuchungen von Knochengeweben etwa wird die Knochenentwicklung durch das biologische Geschlecht beeinflusst (teilweise durch die Wirkung von steroiden Sexualhormonen), aber auch durch das soziale Geschlecht (durch die Ernährung und Muster der körperlichen Betätigung).

• In der Literatur werden „Sex“ (biologisches Geschlecht) und „Gender“ (soziales Geschlecht) häufig fälschlicherweise synonym benutzt. Daher sind Literatur- und Datenbankrecherchen mit angemessenen Begriffen für biologisches und soziales Geschlecht durchzuführen. MeSH (Medical Subject Headings) – das von der US-amerikanischen National Library of Medicine betriebene Lexikon, das zur Indexierung von Artikeln für PubMed verwendet wird – unterscheidet nicht konsistent zwischen „Sex“ und „Gender“, also biologischem und sozialem Geschlecht (zum Großteil deshalb, weil Autor_innen diese Unterscheidung nicht treffen). Daher müssen Forschende Suchstrategien entwickeln, um die ganze Bandbreite an bisher dokumentierten Unterschieden im biologischen und sozialen Geschlecht zu identifizieren. In den Lebenswissenschaften kann es hilfreich sein, Suchbegriffe im Hinblick auf den Unterschied weiblich/männlich zu verwenden, etwa steroide Sexualhormone, Keimdrüsenhormone, Geschlechtschromosomen, Östrogene, Androgene und Steroidrezeptoren.

• Einige Studien regen an, den Namen einer Krankheit oder eines biomedizinischen Forschungsgegenstands mit standardisierten MeSH-Begriffen zu verbinden, etwa „sex factors“ und „sex characteristics“ oder andere Begriffe wie „gender differences“ und „sex differences“. In der Forschung wurden Suchstrategien entwickelt, die bessere Ergebnisse liefern als „Sex” oder “Gender” ohne Zusätze (Oertelt-Prigione et al., 2010; Moerman et al., 2008).

Forschungsdesign

• Es gilt festzulegen, wie ein bestimmter Versuch das biologische Geschlecht als biologische Variable einsetzen wird. Diese Entscheidung kann sich auf frühere geschlechtsspezifische Forschungen oder auf Annahmen über die biologische Plausibilität stützen.

• Zellen und Zelllinien können je nach Fragestellung auf unterschiedliche Weise für Versuche ausgewählt werden (s. Tabelle 1).

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Konfigurieren von biologischen Experimenten an Zelllinien und Gewebeproben

Zelllinien und/oder Gewebeproben:

Zellen und Gewebe von weiblichen und männlichen Spender_innen

Studieneigenschaften und Überlegungen:

Zelllinien von weiblichen oder männlichen Zellen haben unterschiedliche genetische Eigenschaften und können unterschiedliche Wachstumsraten, Metabolismen oder Reizreaktionen aufweisen (Ritz, 2014).

Wenn das biologische Geschlecht als Variable eingesetzt wird, sollten andere Spendereigenschaften abgeglichen oder Unterschiede kontrolliert werden.

Untersuchungen von sowohl weiblichen als auch männlichen Zellen bieten Einsichten in spezifische Formen des geschlechtlichen Dimorphismus.

Die Analyse anderer Faktoren, die sich mit dem biologischen Geschlecht überschneiden können, ist entscheidend, um zu vermeiden, dass Geschlechterunterschiede übersehen werden oder das Geschlecht übermäßig betont wird.        

 

Zelllinien und/oder Gewebeproben:        

Eingeschlechtlich

Studieneigenschaften und Überlegungen:

Untersuchungen von Zellen oder Geweben von nur einem Geschlecht (weiblich oder männlich) können nützlich sein, um Forschungslücken zu schließen, Unterschiede von Zellarten innerhalb eines Geschlechts zu untersuchen, oder Krankheiten oder Interventionen zu erforschen, die ausschließlich bei weiblichen oder männlichen Organismen auftreten.

Zum Beispiel können Untersuchungen an ausschließlich weiblichen Zellen/Geweben dazu dienen, wie sich Zellen je nach Hormonstatus (präpubertär; prämenopausal mit normaler Ovulation; prämenopausal mit durch hormonelle Kontrazeptiva, Medikamente oder Stress veränderter Ovulation; menopausal), Alter, Tageszyklus und andere Faktoren unterscheiden. Ausschließlich männliche Zellen oder Gewebe können dazu dienen, spezifisch männliche Krankheiten oder Interventionen zu untersuchen (z. B. Prostatakarzinome).

Ergebnisse aus eingeschlechtlichen Untersuchungen sollten nicht auf die allgemeine Bevölkerung umgelegt werden.
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Datensammlung

Probenabgleich: Wird das biologische Geschlecht als Variable verwendet, sollten Gewebe und Zellen durch nicht-geschlechtliche Merkmale ergänzt werden, die das Ergebnis beeinflussen könnten (etwa Alter, Hormonstatus oder die reproduktive Geschichte der Spender_innen). Wenn ein derartiger Abgleich nicht möglich ist, können die Ergebnisse alternativ nach Geschlecht desaggregiert und je nach statistisch relevanten Unterschieden zwischen weiblich und männlich abgeleiteten Geweben und Zellen nach nichtgeschlechtlichen Merkmalen bereinigt werden, vorausgesetzt, dass derartige Unterschiede gemessen werden können und ihre Effekte und Resultate bekannt sind.

Zellmedien: Die Genexpression kann durch steroide Sexualhormone im Zellkulturmedium oder durch die Hormonumgebung des Spendertieres beeinflusst werden (Veilleux et al., 2012). Zellmedien können das Zellverhalten beeinflussen. Zum Beispiel ist Phenolrot, ein häufiger pH-Indikator, weist eine östrogene Aktivität auf und kann daher Zellantworten verändern (Mauvais-Jarvis et al., 2017).

Datenauswertung

• Alle Begriffe und theoretischen Modelle sind auf unfundierte Annahmen zu prüfen (s. Begriffe und Theorien überdenken).

• Studien sollten die folgenden Fehler vermeiden:

1. Annahme, dass Ergebnisse für ein Geschlecht sich auf das andere anwenden lassen.

2. Vermischen von Zellen von weiblichen und männlichen Tieren. Zellen von weiblichen und männlichen Tieren sollten nicht gemischt werden, weil die Zellen unterschiedliche schnelle Zellzyklen haben und unterschiedlich auf dem Zellenmedium hinzugefügte Apoptosereize und Wachstumsfaktoren reagieren können. Zum Beispiel reagieren weibliche und männliche Zellen unterschiedlich sensible auf bestimmte Apoptoseagenzien – und diese Unterschiede werden von Zelltyp und -alter beeinflusst (Penaloza et al., 2009).

3. Schlussfolgerung, dass geschlechtliche Unterschiede bestehen, ohne Störvariablen zu berücksichtigen (s. Methode: Intersektionale Zugänge).

4. Geschlechtsblinde Interpretation von Ergebnissen.

5. Annahme, dass Unterschiede im Zusammenhang mit dem biologischen Geschlecht sich auch auf das soziale Geschlecht beziehen.

Ergebnisdokumentation

• Darstellung des biologischen Geschlechts von Zellen und Geweben, auch bei eingeschlechtlichen Versuchen (Wizemann, 2012).

• Bericht über nicht vorhandene Ergebnisse. Es sollte dokumentiert werden, wenn in der Auswertung keine Geschlechterunterschiede (Haupt- oder Interaktionseffekte) festzustellen sind, um den Publikationsbias zu verringern, Metaanalysen zu ermöglichen und die Bestimmung von Störvariablen zu erleichtern.

• Prüfen, ob Geschlechterunterschiede in Tabellen, Abbildungen und Schlussfolgerungen angemessen visualisiert werden (s. Überdenken von Sprache und visueller Darstellung).

Dissemination

• Im Fall, dass signifikante Geschlechterunterschiede deutlich werden, ist die notwendige Folgeforschung zu beschreiben.

• Werden Geschlechterunterschiede festgestellt, sollte präzisiert werden, wie diese Ergebnisse in die präventive, diagnostische oder therapeutische Praxis übertragen werden könnten, um bessere Behandlungsergebnisse zu erzielen.

Relevante Fallstudien

Verschreibungspflichtige Medikamente/Prescription Drugs, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster
Stammzellen/Stem Cells, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

Clayton, J. A. (2016). Studying both sexes: a guiding principle for biomedicine. FASEB J., 30, 519–524.

Docherty, J. R., Stanford, S. C., Panattieri, R. A., Alexander, S. P., Cirino, G., George, C. H., ... & Sobey, C. G. (2019). Sex: A change in our guidelines to authors to ensure that this is no longer an ignored experimental variable. British Journal of Pharmacology, 176

(21). doi.org/10.1111/bph.14761, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

Fausto-Sterling, A. (2005). The bare bones of sex, part 1: sex and gender. Signs: Journal of Women in Culture and Society, 30(2), 1491-1527.

Mauvais-Jarvis, F., Arnold, A. P., & Reue, K. (2017). A guide for the design of pre-clinical studies on sex differences in metabolism. Cell metabolism, 25(6), 1216-1230.

Moerman, C., Deurenberg, R., & Haafkens, J. (2009). Locating sex-specific evidence on clinical questions in MEDLINE: a search filter for use on OvidSP. BioMed Central Medicine Medical Research Methodology, 9(25).

Messing, K., Parent, L., St-Pierre, J., Vaillancourt, C., & Mergler, D. (2014). First steps for integrating sex and gender considerations into basic experimental biomedical research. Journal of the Federation of American Societies for Experimental Biology, 28, 4-13.

Oertelt-Prigione, S., Parol, R., Krohn, S., Preissner, R., & Regitz-Zagrosek, V. (2010). Analysis of sex and gender-specific research reveals a common increase in publications and marked differences between disciplines. BioMed Central Medicine, 8, 70-80.

Pardue, M., & Wizemann, T. (Eds.) (2001). Exploring the Biological Contributions to Human Health: Does Sex Matter? Washington D.C.: National Academy Press.

Penaloza, C., Estevez, B., Orlanski, S., Sikorska, M., Walker, R., Smith, C., Smith, B., Lockshin, R. & Zakeri, Z. (2009). Sex of the cell dictates its response: differential gene expression and sensitivity to cell-death-inducing stress in male and female cells. Journal of the Federation of American Societies for Experimental Biology, 23(6), 1869-1879.

Planchard, D., Loriot, Y., Aoubar, A., Commo, F. & Soria, J. (2009). Lung cancer in women: differential expression of biomarkers in men and women. Seminars in Oncology, 36(6), 553-565.

Rich-Edwards, J. W., Kaiser, U. B., Chen, G. L., Manson, J. E., & Goldstein, J. M. (2018). Sex and gender differences research design for basic, clinical, and population studies: essentials for investigators. Endocrine Reviews, 39(4), 424-439.

Ritz, S. Antle, D., Côté, J., Deroy, K., Fraleigh, N., Shah, K., McCormack, C., & Bradbury, N. (2014). Do you know the sex of your cells? American Journal of Physiology - Cell Physiology, 306, C3-C18.

Tannenbaum, C., Schwarz, J., Clayton, J., de Vries, G., & Sullivan, C. (2016). Evaluating sex as a biological variable in preclinical research: the devil in the details. Biology of Sex Differences, 7(1), 1.

Taylor, K., Vallejo-Giraldo, C., Schaible, N., Zakeri, R., & Miller, V. (2011). Reporting of sex as a variable in cardiovascular studies using cultured cells. Biology of Sex Differences, 2(11), 1-7.

Veilleux, A., & Tchernof, A. (2012). Sex differences in body fat distribution. In Symonds, M. (Ed.), Adipose Tissue Biology (pp. 123-166). New York: Springer Science and Business Media.

Wizemann, T. (Ed.) (2012). Sex-Specific Reporting of Scientific Research: A Workshop Summary. Washington, D.C.: National Academies Press.

Yoon, D., Mansukhani, N., Stubbs, V., Helenowski, I, Woodruff, T., & Kibbe, M. (2014). Sex bias exists in basic science and translational surgical research. Surgery, 156(3), 508-516.