Konzepte und Theorien überdenken

Begriffe und Konzepte steuern unser Denken. Konzepte wie ‚Sexualhormone‘ und weibliches Geschlecht als ‚allgemeines Entwicklungsprinzip‘ in der Genetik der Geschlechtsdetermination lenken die Forschung jedoch in die falsche Richtung.

Biologin an der Stanford University

Theorien stellen einen Rahmen bereit, innerhalb dessen Phänomene erklärbar und vorhersagbar sind. Konzepte hingegen beziehen sich sowohl auf die Beschreibung und Interpretation von Daten beschrieben wie auch auf die Kategorisierung bestimmter Phänomene. Manche Theorien haben für ein ganzes Forschungsfeld Gültigkeit und haben bereits den Status eines Paradigmas, andere wiederum betreffen nur einzelne Fragen oder Themen innerhalb eines Forschungsgebiets. In jedem Fall geben Theorien und Konzepte einen Rahmen vor und beeinflussen die Art und Weise der Forschung innerhalb eines bestimmten Bereichs oder eines Themengebiets. Sie wirken sich unter anderem darauf aus:

  • welche Forschungsthemen als interessant gelten;
  • was einer Erklärung bedarf (das heißt, welche Forschungsfragen von Interesse sind);
  • was als Beleg oder Beweis zählt;
  • wie Belege oder Beweise (einschließlich der verwendeten Konzepte) interpretiert werden;
  • sowie (häufig) welche Methoden als angemessen gelten.
     

Zentrale Konzepte und Theorien in ihrem Geschlechtsbezug zu überdenken ist wichtig, um sicherzustellen, dass:

  1. alle aufgestellten Thesen und behandelten Themen auf den bestmöglichen verfügbaren Erkenntnissen und Informationen beruhen;
  2. die angewandten Konzepte und Theorien den Forscher_innen nicht den Blick auf wichtige geschlechtsspezifische Aspekte verstellen, die nutzbringende Quellen für Innovationen sein könnten.
Das Verhältnis zwischen Forschungserkenntnissen, Konzepten und Theorien ist stets kompliziert. Dies wird anhand einer Leiter visualisiert.

Fragen:

  1. Welche „Vorannahmen“ (so vorhanden) über das biologische und soziale Geschlecht prägen die jeweiligen Konzepte und Theorien eines Forschungsgebiets beziehungsweise liegen ihnen zugrunde? Diese „Hintergrundannahmen“ treten selten offen zutage. Es handelt sich um vorgefasste Meinungen und Gepflogenheiten, die innerhalb einer Forschungsgemeinschaft geteilt, aber nicht hinterfragt werden (Longino 2002). Für das Aufspüren solch unbewusster Annahmen, die sich prägend auf Konzepte und Theorien auswirken, ist es hilfreich, sowohl Annahmen hinsichtlich des sozialen Geschlechts (Gender) als auch Sprache und visuelle Darstellungen zu analysieren.
  2. Welche Auswirkungen haben Konzepte und Theorien über das biologische und das soziale Geschlecht auf die Forschung innerhalb eines bestimmten Gebiets? Wie beeinflussen sie bspw. die Wahl der Forschungsthemen, die entsprechenden Methoden sowie das, was als Beweis gilt, und seine Interpretation? Welchen Einfluss haben diese Konzepte und Theorien darauf, wie Forschungsfragen formuliert werden?
  3. Welche Fragen in Zusammenhang mit dem biologischen und sozialen Geschlecht werden durch die Art und Weise der Formulierung von Konzepten und Theorien innerhalb eines Forschungsgebiets entweder nicht gestellt, missverstanden oder falsch dargestellt? Ein Beispiel hierfür ist das Konzept „Out-of-Position“ (von der Norm abweichende Sitzhaltung) bei Crashtests, das dazu führt, dass für jene Menschen die nicht innerhalb dieser Norm liegen, keine Crashtests von den Techniker_innen vorgesehen – und folglich auch keine durchgeführt – werden. (vgl. Fallstudie: Schwangere Crashtest-Dummies/Pregnant Crash Test Dummies).
  4. Gibt es Widersprüche zwischen den im Rahmen bestehender Konzepte und Theorien gemachten Annahmen und dem derzeit verfügbaren Wissen über das biologische und soziale Geschlechts? Wie müssen Konzepte und Theorien umformuliert werden, damit sie diesen neuen Erkenntnissen Rechnung tragen?
  5. Inwiefern können mittels neuer Konzepte oder Theorien neue Erkenntnisse zutage gefördert werden?
  6. Eröffnen diese Konzepte oder Theorien Räume für geschlechterreflexive Innovationen?

Beispiel für das Überdenken eines zentralen Konzepts bzw. Grundannahmen:

Anfangs wurden in der Archäologie nur bestimmte Objekte aus Stein wie beispielsweise fein gearbeitete Pfeilspitzen, Speere, Faustkeile und dergleichen als „Werkzeuge“ bezeichnet. Man ging also davon aus, dass sich frühe menschliche Gesellschaften von der Großwildjagd ernährt hatten. In einem zweiten Schritt wurde (in Anlehnung an zeitgenössische Normen) angenommen, dass Männer die Werkzeugmacher und Jäger waren. Als jedoch das Konzept „Werkzeug“ auch auf Abschläge ausgeweitet wurde, die beim Sammeln von Nüssen, der Lederbearbeitung, der Getreideernte und bei Holzarbeiten Verwendung fanden, entwickelte sich ein umfassenderes Verständnis der verschiedenen Facetten der Nahrungsgewinnung in frühen menschlichen Gesellschaften. In dem Moment der konzeptionellen Ausweitung der Vorstellung davon, was in prähistorischen Gesellschaften als „Werkzeug“ galt, stellten sich Fragen im Hinblick auf die unter Frühmenschen übliche Ernährung sowie auf die wirtschaftlichen und kulturellen Ziele werkzeugmachender Gesellschaften nochmals neu (Conkey, 2007; Gero, 1993).

Beispiel für notwendige Veränderung der Grundannahmen:

Osteoporose wurde traditionell als Krankheit von weißen postmenopausalen Frauen definiert. In Europa und den U.S.A. machen allerdings Männer fast ein Drittel der Hüftfrakturen im Zusammenhang mit Osteoporose aus, und es wird zunehmend deutlich, dass sie wegen des beschränkten Rahmens der diagnostischen Definitionen unterdiagnostiziert wurden. Eine Neudefinition der Osteoporose, die Männer sowie Risikogruppen aus Minderheiten einschließt, hat zu neuen Forschungen und klinischen Praktiken geführt, die sich mit Osteoporose in breiteren Populationen beschäftigen (s.  Fallstudie: Osteoporose, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster). Im Gegensatz dazu wurde Herzkrankheit als Krankheit von Männern im mittleren Alter definiert. Doch Herzkrankheit ist auch bei Frauen und genderdiversen Personen eine häufige Todesursache. Die Neudefinition von Herzkrankheit, die auch diese Bevölkerungsgruppen einschließt, erforderte die Neudefinition der Symptome von Herzkrankheit und die Identifikation von neuen diagnostischen Instrumenten; sie wird es auch erfordern, die in klinischen Studien verwendeten Populationen nicht mehr in der traditionellen Aufteilung mit 70% Männern und 30% Frauen zu definieren sowie neue Forschungen über die Risiken für Transgender-Personen in Angriff zu nehmen (s.  Fallstudie: Herzkrankheit in diversen Populationen, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

Conkey, M. (1993). Making the Connections: Feminist Theory and Archaeologies of Gender. In DuCros, H., & Smith, L. (Eds.), Women in Archaeology: A Feminist Critique, pp. 3-15. Canberra: Department of Prehistory Press at the Australian National University.

Gero, J. (1993). The Social World of Prehistoric Facts: Gender and Power in Paleoindian Research. In DuCros, H., & Smith, L. (Eds.), Women in Archaeology: A Feminist Critique, pp. 31-40. Canberra: Department of Prehistory Press at the Australian National University.

Gilbert, S. (2009). Developmental Biology, 8th Edition. Sunderland: Sinauer.

Lenhart, A., Kane, J., Middaugh, E., Macgill, A., Evans, C., & Vitak, J. (2008). Teens’ Gaming Experiences are Diverse and Include Significant Social Interaction and Civic Engagement. Washington, D.C. : Pew Internet and American Life Project.

Longino, H. (1990). Science as Social Knowledge. Princeton: Princeton University Press.

Uhlenhaut, N., Jakob, S., Anlag, K., Eisenberger, T., Sekido, R., Kress, J., Treier, A., Klugmann, C., Klasen, C., Holter, N., Riethmacher, D., Schütz, G., Cooney, A., Lovell-Badge, R., & Treier, M. (2009). Somatic Sex Reprogramming of Adult Ovaries to Testes by FOXL2 Ablation. Cell, 139 (6), 1130-1142