Zu jedem linken Schuh gibt es einen rechten Schuh. Die Menge der Schuhe auf der Welt setzt sich aus der Teilmenge der linken und der Teilmenge der rechten Schuhe zusammen. Es gibt ungefähr doppelt so viele Schuhe wie linke Schuhe.
Das alles ist sehr einfach, und zwar deshalb, weil die Menge der Schuhe endlich ist. Bei unendlichen Mengen ist die Sache komplizierter, da stößt unsere Intuition oft rasch an ihre Grenzen. Es gibt unendlich viele ganze Zahlen und jede zweite davon ist gerade. Aber gibt es deswegen nun weniger gerade Zahlen als ganze Zahlen? Nein – beide Mengen sind gleich groß. Allerdings gibt es in der Mathematik verschiedene Unendlichkeiten, die man sauber voneinander trennen muss.
Die Mathematik, die sich selbst erforscht
Mengenlehre und Logik sind jene Bereiche der Mathematik, in denen die Mathematik sich in gewissem Sinn selbst untersucht. „In den meisten Gebieten der Mathematik beschäftig man sich mit ganz bestimmten mathematischen Objekten, etwa mit Zahlen, Funktionen oder Vektorräumen“, sagt Prof. Martin Goldstern vom Institut für Diskrete Mathematik und Geometrie der TU Wien. Logik und Mengenlehre können allerdings über sich selbst reflektieren, und ausloten, was mit Mathematik eigentlich alles ausgesagt werden kann.
„Die Aufgabe der Mengenlehre ist, das Unendliche zu erforschen“, meint Martin Goldstern. Zwar beschäftigt sich die Mathematik auch mit endlichen Mengen, aber viele besonders interessante mathematische Probleme treten erst im Unendlichen auf.
Wirklich spannend wurde die Arbeit mit dem Unendlichen, als der große Mathematiker Georg Cantor im 19. Jahrhundert zeigen konnte, dass es unterschiedlich große Unendlichkeiten gibt. Zwei Mengen haben definitionsgemäß genau dann gleich viele Elemente, wenn man jedem Element der einen Menge eines aus der anderen Menge eindeutig zuordnen kann – und umgekehrt.
Bei den linken und rechten Schuhen auf einem Schuhregal ist das recht einfach. Auch bei unendlichen Mengen klappt das: Es gibt genauso viele gerade Zahlen wie natürliche Zahlen – denn wir können jeder geraden Zahl n die natürliche Zahl n/2 zuordnen. So entsteht eine eindeutige Abbildung von einer unendlichen Menge auf eine andere. In keiner der beiden Mengen bleibt (nach unendlich vielen Zuordnungen) noch eine Zahl übrig. In diesem Fall hat also eine Teilmenge der natürlichen Zahlen gleich viele Elemente wie die gesamte Menge, obwohl die Teilmenge scheinbar viel kleiner ist.
Aleph null und noch viel mehr
Es gibt noch viele andere Mengen, die gleich viele Elemente haben wie die natürlichen Zahlen: Die Menge der Primzahlen, die Menge der Bruchzahlen oder auch die Menge aller möglichen Computerprogramme. Diese „Art von Unendlich“ nennt man in der Mathematik „Aleph null“.
Georg Cantor stellte allerdings fest: Die Menge der reellen Zahlen ist noch viel größer (in der Fachsprache der Mengenlehre "mächtiger") als die Menge der natürlichen Zahlen. Egal auf welche Weise man versucht, eine Zuordnung der reellen Zahlen zu den natürlichen Zahlen zu finden – es lassen sich immer noch beliebig viele zusätzliche reelle Zahlen finden, die in dieser Zuordnung nicht auftauchen. Die Anzahl der reellen Zahlen ist daher noch viel größer als das „gewöhnliche Unendlich“ der natürlichen Zahlen. Genauso groß ist die Zahl der reellen Zahlen zwischen null und eins, oder die Menge aller Punkte auf einer Geraden. Sogar die Menge der Punkte auf einer Fläche lässt sich bijektiv auf die Zahlengerade (also die Menge der reellen Zahlen) abbilden. In diesem Sinn liegen also auf einer Fläche genauso viele Punkte wie auf einer Linie – ganz im Widerspruch zur Intuition. Mengen der Größe "Aleph null" nennt man auch "abzählbar", die größeren Mengen "überabzählbar".
Was ist die kleinste Zahl nach unendlich?
Als man herausgefunden hatte, dass es zumindest zwei unterschiedliche Unendlichkeiten gibt, stellt sich die Frage: Gibt es auch Unendlichkeiten, die dazwischen liegen? Lässt sich eine Menge finden, die zwar mehr Elemente hat als es natürliche Zahlen gibt, aber weniger als die Menge der reellen Zahlen (das „Kontinuum“)? Viele Mengen, von denen man annehmen könnte, dass sie dieses Kriterium erfüllen – zum Beispiel die Menge der Bruchzahlen – stellen sich bei näherer Betrachtung dann doch als gleich mächtig wie die Menge der natürlichen oder die der reellen Zahlen heraus.
Wohin kommt man, wenn man über die „kleinste“ aller Unendlichkeiten, nämlich Aleph null, die Anzahl der natürlichen Zahlen, hinausgeht? Man kann beweisen, dass es eine kleinste überabzählbare Kardinalität gibt – man nennt sie „Aleph eins“. Cantor vermutete, dass diese nächsthöhere Unendlichkeit der Anzahl der reellen Zahlen entspricht – dass es also neben den aleph null natürlichen Zahlen aleph eins reelle Zahlen gibt. Diese Vermutung heißt „Kontinuumshypothese“.
Unbeweisbar, unwiderlegbar
„Die Auseinandersetzung mit der Kontinuumshypothese und die Klassifikation von unendlich großen Zahlen hat die Mathematik deutlich vorangebracht“, sagt Martin Goldstern. Auch für seine eigene Forschung sind diese Konzepte immer von großer Bedeutung.
Bewiesen werden konnte die Kontinuumshypothese allerdings nicht – und das wird auch nie geschehen: Man konnte nämlich zeigen, dass die Kontinuumshypothese innerhalb der Mengenlehre (der heute verbreiteten axiomatischen Mengenlehre nach Ernst Zermelo und Abraham Adolf Fraenkel) nicht bewiesen werden kann. Genauso wenig lässt sich allerdings innerhalb dieses Systems zeigen, dass die Kontinuumshypothese falsch ist.
Man kann sich also in gewissem Sinn „aussuchen“, ob man die Kontinnumshypothese als Zusätzliche Grundannahme in die Mengenlehre mit einfügen möchte – oder aber ihr Gegenteil. In beiden Fällen entsteht ein sinnvolles mathematisches System. Das ist bemerkenswert: Normalerweise lassen sich nicht verschiedene Antworten auf eine Frage konfliktfrei und versöhnlich in die Mathematik einbetten. Die Frage „Wieviel ist 2+2?“ hat innerhalb der Mathematik nur eine akzeptable Antwort – jede andere würde Widersprüche hervorbringen und dazu führen, dass plötzlich jede Aussage, egal wie absurd, beweisbar wäre.
Ganz unabhängig von der Kontinuumshypothese kann man allerdings fragen: Gibt es noch größere Unendlichkeiten als Aleph eins? Kann man jenseits der reellen Zahlen noch größere Mengen finden? Tatsächlich ist das möglich. Man kann zum Beispiel aus jeder Menge die Potenzmenge bilden – die Menge all ihrer Teilmengen – und beweisen, dass diese Menge immer größer ist als die ursprüngliche. So kann man Schritt für Schritt eine unendliche Reihe unendlicher Mengen konstruieren, die immer noch größer werden.
Es gibt also nicht nur unendlich viele Zahlen, sondern auch unendlich viele Unendlichkeiten. Wie unendlich ist die Menge der Unendlichkeiten? Überabzählbar unendlich. Unabsehbar unendlich. So unendlich, dass man dafür gar keine Worte hat.
Nähere Information:
Prof. Martin Goldstern
Institut für Diskrete Mathematik und Geometrie
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