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Prof. Jürgen Zierep (1929-2021): Ein Nachruf

Aus dem Karlsruher Institut für Technologie erreichte uns die traurige Nachricht, dass der emeritierte Professor Dr.-Ing. Dr.techn.E.h. DDr.h.c. Jürgen Zierep verstorben ist. Der Verstorbene war Ehrendoktor der TU Wien.

Porträtfoto von Jürgen Zierep

© Karlsruher Institut für Technologie

Jürgen Zierep wurde am 21. Jänner 1929 in Berlin geboren. Er studierte Mathematik an der TU Berlin, wo er 1951, im Alter von nur 22 Jahren, promovierte. Nach einem kurzen Abstecher in die Schweizer Industrie, bei dem er auch mit Jakob Ackeret, einem der Pioniere auf dem Gebiet der Überschallströmungen, in Kontakt kam kehrte er an die TU Berlin als Assistent zurück. Nach der Habilitation im Jahr 1956 ging Zierep nach Aachen an das Institut für Theoretische Gasdynamik der DVL (heute DLR). Das Institut stand unter der Leitung von Klaus Oswatitsch, der später Professor an der TH Wien wurde. Unter Oswatitschs Einfluss  befasste sich Zierep in Aachen hauptsächlich mit Problemen der Strömungsmechanik, besonders der Gasdynamik – offensichtlich mit großem Erfolg, denn schon 1961 wurde er im Alter von 32 Jahren nach Karlsruhe berufen, zunächst als a.o. Professor, zwei Jahre danach zum Inhaber des Lehrstuhls für Strömungslehre, später auch für Strömungsmaschinen. Ausgehend von seiner Lehr- und Forschungstätigkeit in Karlsruhe begründete Jürgen Zierep seinen Ruf als einer der herausragenden Vertreter seines Fachgebiets, sowohl in Deutschland als auch im internationalen Rahmen. Bis zu seiner Emeritierung wurde unter seiner Leitung eines der größten Strömungslehre-Hochschulinstitute Deutschlands aufgebaut. Zierep hatte einen Blick für junge Talente, die er einfühlsam förderte. Er war stolz darauf, dass eine große Zahl erfolgreicher Wissenschaftler aus seinem Institut hervorgegangen ist.

Jürgen Zierep ist bereits mit seinen ersten wissenschaftlichen Arbeiten, die er mit Beginn der 1950er Jahre veröffentlichte, über den Kreis der Fachkollegen hinaus bekannt geworden. Es handelte sich um die Einführung strömungsmechanischer Theorien und Methoden in die Meteorologie. Hervorzuheben sind hier Ziereps Arbeiten über Lee-Wellen und über Zellularkonvektion. Die Untersuchungen über Lee-Wellen lieferten einen wesentlichen Beitrag zum besseren Verständnis eines Phänomens, das jedem Segelflieger und jeder Segelfliegerin ein Begriff ist. Das Problem der Zellularkonvektion hat sogar Bedeutung für Fachgebiete gewonnen, die früher mit Strömungsmechanik kaum etwas zu tun hatten: Die Zellular­konvektion gilt heute als Prototyp einer dissipativen Struktur und als ein im wahrsten Sinn des Wortes “schönes” Beispiel für die Fähigkeit komplexer Systeme - einschließlich lebender Systeme - zur Selbstorganisation. 

Als noch keine elektronischen Großrechenanlagen zur Verfügung standen, war die Lösung der Grundgleichungen der Gasdynamik ein außerordentlich schwieriges Problem. Jürgen Zierep hat damals in einer Reihe von Arbeiten neue Methoden zur Lösung der gasdynamischen Gleichungen eingesetzt, so etwa die sogenannte “parabolische Methode” und die “Integralgleichungsmethode” für schallnahe Strömungen. Auch heute noch liefern diese Methoden einen guten Zugang zum Verständnis der schallnahen Strömungen. Fundamentale Bedeutung haben Ziereps Untersuchungen zur Verallgemeinerung des Begriffs der mechanischen Ähnlichkeit. Daraus hervorgegangen sind u.a. neue strömungsmechanische Ähnlichkeitsgesetze. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern hat Jürgen Zierep theoretische und experimentelle Untersuchungen an rotierenden Flüssigkeiten durchgeführt, die zur Erschließung neuer, heute vielfach untersuchter Problemkreise geführt haben. Neue Wege wurden von Zierep auch bei der Entwicklung und beim Aufbau von Versuchsanlagen beschritten, vor allem zum Studium von Wechselwirkungen zwischen thermodynamischen und strömungsmechanischen Vorgängen. Kondensationserscheinungen in Überschallströmungen und Strömungen mit Wärmezufuhr seien hier als Beispiele von Strömungsvorgängen genannt, mit denen heute der Name Zierep - neben dem Namen Oswatitsch -  untrennbar verbunden ist.

Eine Würdigung der wissenschaftlichen Leistung von Jürgen Zierep wäre unvollständig, würden nicht seine Lehrbücher erwähnt werden. Anzahl und Umfang der publizierten Werke sind rein quantitativ bereits beeindruckend. Einzigartig aber macht Ziereps Lehrbücher die bestechende Einfachheit und Klarheit, mit der auch komplizierte Vorgänge dargestellt sind. Zahlreiche Übersetzungen in andere Sprachen (natürlich Englisch, aber auch Polnisch, Türkisch und Japanisch) zeigen, daß die Zierepschen Lehrbücher nicht nur im deutschsprachigen Raum geschätzt werden. Auch die wissenschaftlichen Vorträge von Jürgen Zierep zeichneten sich durch ungewöhnliche Klarheit und Schönheit der Darstellung aus. Sie sind bis heute den Fachkollegen, die sie erleben durften, als didaktische und rhetorische Meisterwerke in Erinnerung.

Ziereps Leistungen in der Wissenschaftsverwaltung und Wissenschaftsorganisation sind seinen Leistungen als Forscher durchaus ebenbürtig. Als Gründungsmitglied des Herausgeberkollegiums der Acta Mechanicahatte Jürgen Zierep wesentlichen Anteil daran, dass diese Zeitschrift des Wiener Springer-Verlags das gesamte Gebiet der Mechanik einschließlich Strömungsmechanik repräsentiert. Als Schatzmeister, später Präsident der Gesellschaft für angewandte Mathematik und Mechanik (GAMM) rückte Zierep nie die nationalen Interessen in den Vordergrund, sondern pflegte stets mit diplomatischem Geschick die internationalen, auch für Österreich wichtigen, Kontakte. Wie später bekannt wurde, hat Zierep bei seiner unauffälligen, aber wirkungsvollen Hilfe für viele Kollegen in der früheren DDR und anderen osteuropäischen Staaten vor dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs auch persönliche Risiken nicht gescheut.  

Jürgen Zierep sind zahlreiche, wohlverdiente Ehrungen zuteil geworden. Man kann hier nicht alle erwähnen. Als das erste von mehreren Ehrendoktoraten hat ihn das Ehrendoktorat der Technischen Universität Wien besonders gefreut, und mit berechtigtem Stolz hat er bei passenden Gelegenheiten den Ludwig-Prandtl-Ring getragen.

Jürgen Zierep verbrachte gerne Zeit mit seiner großen Familie, die ihm viel Freude bereitete. Sein Berufsleben jedoch hat er ganz der Wissenschaft gewidmet. Er war ein akademischer Forscher und Lehrer aus Leidenschaft.Ohne die Begleitung und verständnisvolle Unterstützung seiner Gattin Elisabeth wäre ihm ein solches Leben nicht möglich gewesen. Sie war es auch, die für die legendäre Gastfreundschaft des Hauses Zierep für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt Sorge trug. In seinen letzten, von gesundheitlichen Problemen schwer beeinträchtigten Lebensjahren war Jürgen Zierep auf die Unterstützung seiner Gattin besonders angewiesen. Ihr gebührt daher in erster Linie das Mitgefühl aller Kollegen und Freunde, denen Jürgen Zierep als liebenswerter Mensch in Erinnerung bleiben wird. Jürgen Zierep verstarb am 29. Juli 2021.

Nachruf verfasst von Wilhelm Schneider