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Prof. Degenhard Sommer (1930 – 2020): ein Nachruf

Mit Degenhard Sommer geht ein ganz Großer des europäischen Industriebaus. Sein Leben war ein einziges Zeugnis der industriellen Entwicklung im Nachkriegseuropa.

Prof. Degenhard Sommer (1930 – 2020)

Seine Biographie spiegelt in vielen Details das wider, was „industria“ bedeutet, und was im Gegensatz zu vielen europäischen Ländern immer noch zum Rückgrat der deutschen und österreichischen Volkswirtschaft und Gesellschaft gehört.

Geboren am 8. Dezember 1930 in Gerdauen als Sohn eines Bauunternehmers und Enkel eines Pastors im östlichsten Zipfel Ostpreußens führte er, fünfzehnjährig, in einer abenteuerlichen Flucht seine Schulkameraden in den Westen und landete in Schleswig-Holstein, wo er 1951 in Eutin sein Abitur machte. Seinen väterlichen Wurzeln und den ökonomischen Notwendigkeiten folgend absolvierte er eine Maurerlehre, die es ihm dann ermöglichte, ab 1952 an der TH Karlsruhe sein Architekturstudium zu beginnen.

Nach drei Jahren brachte ihn ein Fullbright-Stipendium an das „Illinois Institute of Technology” in Chicago – der Stadt von Ludwig Mies van der Rohe und Skidmore Owings & Merrill, wo er ein Jahr lang integrale Designerluft schnupperte. Ein Stipendium der Wyoming-Stiftung ermöglichte ihm ein weiteres Reisejahr durch die USA mit Städte- und Industriebauerfahrung, bevor er – 1958 zurück in Deutschland – in Karlsruhe sein Diplom bei Egon Eiermann machte.

Nach so viel „thinking big” war es nur logisch, dass Degenhard Sommer 1959 mit Kollegen die „Lenz Planen und Beraten Gesellschaft” gründete, die in den kommenden 15 Jahren zu einem der großen Planungsunternehmen in Deutschland mit fast 500 Mitarbeiter_innen wurde. In diese Zeit fiel seine Promotion bei den Professoren Haupt und Eiermann über „vorgehängte Wände als US-Erfahrung mit Curtain Walls“.

In diesem Büro und später in seiner eigenen Planungsgruppe entstanden unter anderem das „Europäische Forschungsinstitut für Teilchenphysik” in Grenoble, die Druckerei der „Deutschen Bibelstiftung” in Stuttgart-Möhringen, eine Weberei in Brasilien, das Rundfunkzentrum in Manila, Werke für Hewlett-Packard, IBM und Bosch sowie das „Mercedes Technology Center” der Daimler-Gruppe in Sindelfingen. 

Degenhard Sommer wurde 1973 als erster Professor für das neu gegründete Institut für Industriebau und interdisziplinäre Bauplanung an die TU Wien berufen. Er war die Idealbesetzung, ein erfahrener Industriebauer, auf Du und Du mit den maßgeblichen Größen der Industrie, ein Architekt mit einer interdisziplinären DNA amerikanischen Zuschnitts – nicht alltäglich in der damals noch sehr grauen Hauptstadt Österreichs. Eine Woche Wien und eine Woche Karlsruhe, wo er inzwischen die „Planungsgruppe Prof. Sommer” gegründet hat, war das ungewöhnliche Verhandlungsergebnis seiner überzeugenden Art mit der damaligen Wissenschaftsministerin Herta Firnberg. Dass er während der Wien-Wochen standesgemäß, wenn auch in einem kleinen Zimmer, im Hotel Sacher logierte, befördert seinen Ruf des „etwas Anderen“.

In den fast 24 Jahren seiner universitären Tätigkeit ließ er aus dem jungen Pflänzchen des Industriebauinstituts einen starken Baum wachsen, der heute als einziger im deutschsprachigen Raum die Fahne des „Abfahrtslaufs der Architektur“ trägt.

Er bleibt uns in Erinnerung als Architekt bei den Bauingenieur_innen, der Architekt_innen, Bauingenieur_innen und Maschinenbauer_innen aus vielen verschiedenen Ländern als Assistent_innen und Forscher_innen unter seinem Dach vereinte und der die begeisternde Welt des Industriebaus als Innovator des Bauens auf allen Linien gefördert hat. Die gendergerechte Form ist bewusst gewählt, war doch das Sommer-Institut von Anfang an „paritätisch“ besetzt. Früh erkannte er die Bedeutung von Kommunikation und Interdisziplinarität für die Lösung von komplexen Aufgaben und förderte dies in Lehre, Forschung und Veranstaltungen.

Die Verbindung von Arbeit, Arbeitsplatz und Mensch und seine wissenschaftlichen Publikationen gemeinsam mit dem Arbeitswissenschaftler Prof. Franz Wojda bescherten ihm 1977 den Anton-Benja-Preis. Ab 1980 hielt er im Zwei-Jahres-Abstand die von ihm gegründeten „Internationalen Industriebau-Seminare” ab, bei denen das „Who is Who“ der internationalen Szene allmählich zu einer verschworenen Industriebaugemeinde wurde, die ohne Rücksicht auf eigene Vorteile Erkenntnisse und Erfahrungen austauschte.

Andächtig lauschte auch ich als Student den Ausführungen von Nick Grimshaw, Peter Rice, Walter Henn und Santiago Calatrava im Konferenzraum der OPEC an der Wiener Ringstraße. Degenhard Sommer war der Mediator zwischen den ganz Jungen und der großen Welt in allen Lebenslagen. Die Karrieren seiner Studierenden und Assistent_innen aufzuzählen sprengt diesen Nachruf. Er betrachtete alle als seine „Kinder“, die er mit wohlwollender Distanz dazu führte, weltoffen und tolerant zusammen zu arbeiten – ganz im Sinne seiner interdisziplinären Berufung.

Diese Berufung lebte er auch in vielen internationalen Gremien und Vereinigungen, die sich diesem Ziel verschrieben hatten. Er gründete die „Österreichische Studiengemeinschaft für Industriebau” und verlieh damit den ersten österreichischen „Industriebaupreis”, er war Head der UIA Working GroupWorking Places and Commercial Spaces“, leitete im CIB, dem Conseil International du Batiment, den Bereich Industriebau und arbeitete vor allem in der deutschen „Arbeitsgemeinschaft Industriebau” (AGI), welcher das Institut bis heute verbunden ist.

Degenhard Sommer war – auch all die Jahre nach seiner Emeritierung – mit seiner „Saat, die so hervorragend aufgegangen ist“, eng verbunden. Nicht nur die Organisation der Übergangszeit bis zu seiner Nachbesetzung durch Peter Niehaus, den Chef der Siemens Bauabteilung, sondern die fast väterliche Sorge um alle seine ehemaligen Assistent_innen und natürlich um „sein Institut“ hat alle Betroffenen regelmäßig berührt. Auch der Autor dieser Zeilen wird die nun nicht mehr wiederkehrenden Anrufe aus Baden-Baden mit der Frage „Was macht mein Institut denn so?“ schmerzlich vermissen.

Aber was gibt es Schöneres, als mit vollem dunklem Haar zufrieden auf seine „Kinder“ herab zu blicken und auf Wolke sieben sitzend, in einer Kombination von preußischer Präzision und Wiener Schmäh, den Fortgang der industriellen Welt zu kommentieren. So werden wir ihn in Erinnerung behalten.