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Neue Gleichungen zur Corona-Epidemie

Mit jahrzehntealten Gleichungen kann man Epidemien elegant beschreiben – aber es könnte noch besser gelingen, wenn man die Gleichungen etwas verändert, sagt eine Publikation der TU Wien.

Neue Formeln für die Beschreibung der Epidemie

Wenn eine Epidemie ausbricht, wie entwickelt sich dann die Zahl der infizierten Personen im Lauf der Zeit? Und wie rasch ist mit wie vielen Todesfällen zu rechnen? Um solche Fragen zu beantworten, werden in der Epidemiologie seit Jahrzehnten recht einfache mathematische Modelle verwendet, etwa das sogenannte SIR-Modell, das mit wenigen Gleichungen beschreibt, wie die Bevölkerungsanteile gesunder, infizierter, genesener und verstorbener Personen zusammenhängen.

Ein Team des Forschungsbereichs für Festigkeitslehre und Biomechanik (Fakultät für Bauingenieurwesen, TU Wien) unter der Leitung von Prof. Christian Hellmich hat nun die Zeit des Lockdowns genutzt, um die eigene Modellierungserfahrung auf dieses SIR-Modell anzuwenden. Dabei zeigte sich: Mit einer kleinen aber entscheidenden Modifikation wird das althergebrachte SIR-Modell noch deutlich besser. Man kann nämlich zusätzlich berücksichtigen, dass es eine ganz bestimmte charakteristische Zeitdauer zwischen Infektion und Tod gibt. Das modifizierte Modell wurde nun an Daten aus 57 verschiedenen Ländern validiert, und fast überall bildet es die Entwicklung der tatsächlich bestätigten Todesfälle besser ab. 

Agenten oder Differentialgleichungen

Es gibt grundsätzlich ganz unterschiedliche Möglichkeiten, die Ausbreitung von Epidemien zu berechnen. Man kann etwa agentenbasierte Modelle verwenden, bei denen eine große Zahl einzelner Personen am Computer simuliert wird – solche Modelle werden auch an der TU Wien entwickelt und eingesetzt, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

Einfacher ist es, wenn man nicht einzelne Personen betrachtet, sondern die Bevölkerung als Ganzes beschreibt. Im SIR-Modell wird zwischen drei verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschieden: Den gesunden, infizierten und „entfernten“ Personen. Die letztgenannte Kategorie besteht einerseits aus Verstorbenen, andererseits aus Personen, die wieder gesund wurden, immun sind und für den weiteren Epidemieverlauf daher keine Rolle mehr spielen. Die mathematischen Zusammenhänge zwischen diesen Bevölkerungsanteilen werden mit Differentialgleichungen beschrieben.

„Diese Differentialgleichungen sagen uns, wie rasch sich die Zahlen einer Bevölkerungsgruppe ändern, abhängig davon, wie hoch die Zahlen der anderen Bevölkerungsgruppen gerade sind“, erklärt Teammitglied Niketa Ukaj, die sich schon während ihres Biomedical Engineering Studiums mit der Ausbreitung des HIV-Virus beschäftigt hat: „Wie schnell die Zahl der Angesteckten wächst, hängt etwa davon ab, wie viele infizierte Personen es momentan gibt.“ 

Typische Zeitdauer bis zum Tod

Ganz ähnlich wird im SIR-Modell auch der Zusammenhang zwischen infizierten und verstorbenen Personen dargestellt: Je mehr infizierte Personen, umso schneller wächst die Anzahl der Verstorbenen. „Das klingt einleuchtend, ignoriert aber eine wichtige Tatsache“, sagt Prof. Christian Hellmich. „Es gibt eine typische Zeitdauer zwischen Infektion und Tod. Also haben wir begonnen, eine modifizierte Gleichung zu untersuchen – so wie wir das in unserer Arbeit seit vielen Jahren im Zusammenhang mit Computermodellen für biologische Prozesse machen, etwa für Knochenwachstum und daraus folgende Festigkeitsprobleme.“ Die modifizierte Gleichung beschreibt, dass ein Anteil der zu einem bestimmten Zeitpunkt infizierten Personen nach einer charakteristischen Krankheitsdauer stirbt. 

Mit diesem modifizierten SIR-Modell analysierte das Team nun die bestätigten COVID-19-Ausbreitungsdaten aus insgesamt 57 Ländern, wie sie öffentlich zugänglich vorliegen. „Wir haben sowohl mit dem klassischen SIR-Modell als auch mit unserem modifizierten Modell versucht, die öffentlich berichteten COVID-19-Zahlen dieser Länder nachzuvollziehen“, berichtet Studien-Erstautor Prof. Stefan Scheiner: „Bei beiden Modellen haben wir die Parameter länderspezifisch angepasst, um aus der Zahl der Infizierten die Zahl der Verstorbenen auszurechnen. Dabei zeigt sich: im untersuchten Zeitraum vom Ausbruch der Krankheit bis zum 26.4.2020 gelingt das mit dem modifizierten Modell fast immer deutlich besser.“

Bei 55 von 57 Ländern lieferte das modifizierte Modell deutlich bessere Ergebnisse als das klassische SIR-Modell. Die beiden übrigen Länder waren Ungarn, wo beide Modelle ähnlich gute Ergebnisse brachten, und Südkorea, das eine Sonderrolle einnimmt. „Dort liegt der Ausbruch der Epidemie schon besonders lange zurück, und es gibt Erkrankte, die nach einer sehr langen Krankheitsdauer dann doch noch sterben – diesen Aspekt bilden wir zur Zeit noch nicht ab “, erklärt Hellmich.
Die Studie wurde nun nach Peer-Review im Fachjournal „Chaos, Solitons & Fractals“ publiziert. 

Originalpublikation

Mathematical modeling of COVID-19 fatality trends: Death kinetics law versus infection-to-death delay rule, S. Scheiner, N. Ukaj, C. Hellmich, Chaos, Solitons & Fractals, 136, 109891 (2020)., öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

Kontakt

Prof. Christian Hellmich
Institut für Mechanik der Werkstoffe und Strukturen
Technische Universität Wien
T +43-1-58801-20220
christian.hellmich@tuwien.ac.at