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Die Erde dreht sich schneller

Die Erdrotation ist nicht perfekt gleichmäßig. Wenn man sehr präzise misst, kann man zeigen: Im vergangenen Jahr hat sich die Erde schneller gedreht als üblich.

Nachthimmel mit kreisförmigen Sternenbahnen (Langzeitbelichtung)

Die Bahn der Sterne am Nachthimmel macht die Erdrotation sichtbar.

Als ob man noch einen weiteren Grund benötigt hätte, das Jahr 2020 ungewöhnlich zu finden! Wie Daten aus der Radioastronomie zeigen, hat sich die Erde 2020 ganz besonders schnell gedreht. Normalerweise wird die Erdrotation von Jahr zu Jahr ein kleines bisschen langsamer. Im vergangenen Jahr hat sich dieser Effekt allerdings umgekehrt, und die Erdrotation hat – verglichen mit präzisen Atomuhren – sogar dreieinhalb Millisekunden aufgeholt. Für Präzisionsmessungen ist das interessant, allerdings ist das Phänomen weder neu noch besorgniserregend. Schwankungen in der Geschwindigkeit der Erdrotation werden schon lange beobachtet, sie sind ganz normal und können verschiedene Ursachen haben.

Graphik der Tageslänge von 1830 bis 2020

Die durchschnittliche Tageslänge ändert sich von Jahr zu Jahr.

Astronomische Tageslänge und "offizielle" Uhrzeit stimmen nicht perfekt überein.

Astronomische Tageslänge und "offizielle" Uhrzeit stimmen nicht perfekt überein.

Weltzeit und Atomuhren

„Die Messung von Erdrotationsschwankungen gehört zu unseren Forschungsthemen im Forschungsbereich für Höhere Geodäsie“, sagt Dr. Sigrid Böhm (Department für Geodäsie und Geoinformation, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster). Je nachdem, wie schnell sich die Erde dreht, ergeben sich Abweichungen zwischen der sogenannten Weltzeit, die über den Drehwinkel unseres Planeten in Bezug zum Sternenhimmel definiert ist, und der offiziellen Atomzeit, nach der unsere Uhren gestellt werden.

Gemessen wird die Weltzeit mithilfe der „Very Long Baseline Inferferometry“ (VLBI). Mit großen Radioteleskopen auf der ganzen Welt werden Radioquellen im Weltraum vermessen. Radiowellen haben eine große Wellenlänge, das macht es eigentlich sehr schwierig, die Position einer Radioquelle im All präzise zu vermessen. Allerdings gibt es Methoden, mehrere Radioteleskope, die in großem Abstand auf der Erdoberfläche positioniert sind, zu einem gewaltigen Gesamtsystem zusammenzuschließen und damit die Messgenauigkeit drastisch zu erhöhen.

Die TU Wien betreibt gemeinsam mit dem Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen das Vienna Center for VLBI, das sich an internationalen Forschungsprojekten im Zusammenhang mit VLBI-Daten beteiligt. „Wir werten die Daten aus, betreiben laufend Erdrotationsmonitoring und stellen fast tagesaktuell Angaben über den momentanen Unterschied zwischen Weltzeit und Atomzeit zur Verfügung“, erklärt Dr. David Mayer vom Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen. Wichtig ist das unter anderem, um die hohe Präzision von Satellitennavigationssystemen wie GPS oder Galileo zu gewährleisten: Nur wenn man die Erdrotation exakt beschreiben kann, lassen sich auch die Koordinaten auf der Erdoberfläche mit maximaler Genauigkeit angeben.

Gezeiten, Gletscher und Gestein

Wäre die Erde bloß eine perfekte Kugel, die einsam um einen Stern kreist, dann wäre ihre Rotation immer gleich schnell. Doch ganz so einfach ist es nicht: Die Gezeitenkräfte des Mondes können dazu führen, dass sich die Rotation der Erde ein kleines bisschen ändert, gleichzeitig wandert der Mond ganz langsam von der Erde weg. Das führt dazu, dass die Erdrotation über lange Zeiträume betrachtet abnimmt, immer wieder ist daher eine „Schaltsekunde“ nötig, um die offizielle Atomzeit wieder an die tatsächliche Weltzeit anzunähern.

Es gibt aber auch andere Effekte, von denen die Erdrotation beeinflusst wird. „Wichtig ist etwa auch der sogenannte glazial isostatische Ausgleich“, sagt Sigrid Böhm. „Seit dem Abschmelzen der Gletscher der letzten Eiszeit kommt es zu einer Umverteilung von Massen im Erdinneren und an der Oberfläche der Erde. Das verringert das Trägheitsmoment des Planeten und beschleunigt die Rotation aufgrund der Drehimpulserhaltung.“ Dieser Effekt lässt sich über Zeiträume von etwa 1.000 bis 100.000 Jahren beobachten. Dazu gibt es noch Schwankungen auf einer kürzeren Zeitskala, die der Kopplung zwischen der festen Erdkruste und dem flüssigen Erdinneren zugeschrieben werden.

Der langfristige Trend geht in Richtung abnehmende Rotationsgeschwindigkeit und längere Tagesdauer. Doch in den letzten fünfzig Jahren hat sich der Trend umgekehrt und die Tage wurden wieder kürzer. 2020 hat die Erde verglichen mit den Atomuhren sogar 3,5 Millisekunden aufgeholt.

„2020 ist das erste Jahr seit Einführung der Atomzeit, in dem die Tage durchschnittlich kürzer als 86400 s waren“, sagt Sigrid Böhm. „Die durchschnittliche Tageslänge im Jahr 2020 betrug 86399,9999965.“

Das ist untypisch, aber nicht völlig neu: Im 19. Jahrhundert gab es eine Phase, ab etwa 1860, in der die Tage über mehr als 20 Jahre hinweg kürzer waren als 24 Stunden. Das kann man aus den Zeitpunkten von damals beobachteten Sternbedeckungen durch den Mond zurückrechnen.

Kontakt

Dr. Sigrid Böhm
Department für Geodäsie und Geoinformation
Technische Universität Wien
sigrid.boehm@tuwien.ac.at

Text: Florian Aigner