Istanbul Technical University, Türkei, Wintersemester 2024/25
Olivia Kafka
Oktober 2024, Teil 1
Bereits als ich letztes Jahr in Istanbul in den Zug zurück nach Wien eingestiegen bin, war ich gedanklich damit beschäftigt wann und wie ich wieder zur Gelegenheit kommen kann, in Istanbul zu leben. Ich entschloss mich deshalb dazu, meine Masterarbeitsforschung anhand einer Fallstudie in Istanbul durchzuführen und beantragte das Stipendium für KUWI (=kurzfristige wissenschaftliche Arbeiten im Ausland). Viele Menschen aus den Bereichen Planung und Aktivismus engagieren sich für den Schutz des nördlichen Waldgürtels Istanbuls, beziehungsweise jener Bereiche, die noch von der Zerstörung durch große Infrastrukturprojekte und Zersiedelung verschont geblieben sind. Nun habe ich die Möglichkeit, unter Betreuung an der TU und der ITÜ für zwei Monate qualitativ zu einem Thema zu forschen, das so ziemlich jeder Person, die ich hier antreffe sehr am Herzen liegt. So viel zum Hintergrund, nun zur Stadt und Uni.
Istanbul ist eine unglaublich schöne, vielseitige und aufregende Stadt, die kaum ganzheitlich beschrieben werden kann, denn mit einer Gesamteinwohner_innenzahl von 16-20 Millionen ist jeder Stadtteil schon eine Stadt für sich. Die horrende Inflation und politisch schwierige Lage stellen die Bewohner_innen vor sehr große Herausforderungen und auch als Studierende kann die Unterkunftssuche grundsätzlich schwierig sein. Glücklicherweise habe ich eine sehr tolle WG gefunden und lebe nun mit einem Gastgeber aus Istanbul, einem weiteren Menschen und zwei Katzen, weit ab vom Schuss im wunderschönen Sariyer auf der europäischen Seite Istanbuls. Wenn ich nicht gerade mit meinem Gastgeber per Motorrad durch den Stau schlängelnd unterwegs bin, ist das Pendeln um einiges langwieriger als in Wien, aber generell gehört das ein bisschen zum Leben in Istanbul dazu. Die Stadt kann oftmals überwältigend sein, und es macht Sinn, sich untertags nicht zu viel vorzunehmen, da schon die Reise durch die Stadt allein sehr schlauchend sein kann. In zentralen Bereichen der Stadt funktionieren die öffentlichen Verkehrsmittel aber sehr gut und sind außerdem bemerkemswert vielseitig – denn nicht nur U-Bahn, Bus, Straßenbahn und Zug, sondern auch Standseilbahn, Gondel und die bekannten Fähren über den Bosporus gehören zum Öffi-Standardrepertoire.
Die ITÜ gehört zu den besten Universitäten in der extrem großen und vielfältigen Universitätslandschaft der Türkei. Als Gastforscherin am ITÜ Environment and Urbanism Applied Research Center habe ich ein Büro am Taşkışla Campus. Es ist einer der schönsten Altbau-Standorte und nur einen Katzensprung vom Taksim-Platz entfernt. Apropos Katzen, dieser Campus wird von zahlreichen wohlgehüteten Katzen bewohnt, die den Studienalltag begleiten. Das Universitätsgebäude verfügt außerdem über einen tollen Hof und eine Terrasse mit einem großartigen Blick über den Bosporus.
Der administrative Aufwand eines längeren Erasmus+-Aufenthalts (Versicherung, Aufenthaltsgenehmigung, mehrstufige Kursanmeldung) bleibt mir diesmal glücklicherweise erspart. Bei Bedarf gibt es unglaublich großzügige Unterstützung vom International Office der ITÜ, die nicht nur mit direkten Studienangelegenheiten aushelfen und immer erreichbar und nett sind, sondern sogar von sich aus bei der Vorbereitung der Unterlagen für die Aufenthaltsgenehmigung helfen. Meine ersten Wochen sind davon geprägt, Interviewpartnerinnen zu kontaktieren, eine Aufgabe, die ich ohne die Unterstützung gut vernetzter Bekannter in der Türkei, nur schwer alleine bewältigen könnte. Ich traf außerdem meine Betreuerin an der ITÜ vor Ort wieder. Nachdem ich letztes Jahr einen Kurs zur Planungstheorie bei ihr belegt hatte (große Empfehlung an dieser Stelle!), hatte ich sie als Zweitbetreuerin angefragt und bin nach wie vor extrem glücklich, dass sie bereit ist, mich bei meiner Masterarbeit zu unterstützen. Generell fühle ich mich hier als Studentin, die versucht, ihr Türkisch zu verbessern, extrem willkommen und habe viele wunderbare, herzliche Begegnungen im Alltag.
Oktober 2024, Teil 2
Nach einem Monat bin ich auch mental so richtig hier angekommen. Mein üblicher Kaffeekonsum wurde bereits substantiell durch Çay ersetzt, was zu meinem entspannteren Lebensstil hier ebenso passt, wie die Mittagsschläfchen mit Katze. Ich genieße das Ausschlafen sehr, denn wenn ich hier um 10 Uhr in Ruhe meine ersten Aufgaben für meinen Job in Wien erledigt habe, ist es dort erst 8 Uhr. Doch gibt es einiges zu tun, vor allem Interviews zu organisieren, Planungsdokumente zu durchforsten und meinen Theorieteil weiter zu schärfen.
Einen Teil der Arbeit erledigte ich unterwegs nach Izmir – eine Zugreise, die ich sehr empfehlen kann. Das gebuchte Zweierabteil hatte ich sogar für mich allein, inklusive Snacks, Waschbecken und Arbeitstisch und am Morgen erwartete mich die unglaublich schöne, olivenbaumgesäumte Berglandschaft entlang der Ägäisküste. Nach Izmir verschlug es mich wegen der Hochzeit einer lieben Freundin und es war toll, gemeinsam mit ihr und ihrer Familie feiern zu dürfen. Tatsächlich erwartete mich daraufhin eine zweite Hochzeit in Baku, eine sehr spannende Stadt, die ich mit einer Freundin, die dort aufwuchs, erkundete. Nach dieser intensiven Zeit, mit viel Essen, viel Tanzen und kläglichen Versuchen, mein Türkisch anzuwenden, ging es wieder zurück nach Istanbul, wo mich keine Hochzeit mehr, sondern das erste von vielen Interviews erwartete.
Das Interview mit einem engagierten Wissenschaftler bot spannende aber auch traurige Einsichten in die vielen Versuche, die Wälder zu schützen, die Stück für Stück durch Gated Communities, industrielle Infrastrukturen oder andere Bautätigkeiten an Fläche verlieren. Der Mut, die Beständigkeit und das Engagement, trotz der widrigen Umstände aktiv zu bleiben, sind aber sehr inspirierend und motivieren mich, an der Fallstudie dran zu bleiben. Gespannt bin ich auf meine nächsten Gesprächspartner aus Planung und Aktivismus, die ich ohne die wertvolle Unterstützung durch Freund_innen aus Istanbul nur schwer erreicht hätte, denn ich hatte das Glück letztes Jahr wertvolle Freundschaften mit Studierenden aus Istanbul zu knüpfen und gemeinsam ihre Lieblingsorte zu erkunden. Die Angebote der Erasmus+-Community habe ich deshalb kaum in Anspruch genommen. Es sei aber an dieser Stelle erwähnt, dass es viele Möglichkeiten gibt, sich mit anderen Erasmus+-Studierenden auszutauschen, auszugehen und spannende Ausflüge in die Umgebung zu machen (z.B. nach Kappadokien). Über eine WhatsApp-Gruppe werden wichtige Infos ausgetauscht und bei allfälligen Fragen wird rasch ausgeholfen.
Was meine Freizeit betrifft, verbringe ich sie hier vor allem mit Bouldern, auf Konzerte gehen und die gigantische Stadt Stück für Stück zu entdecken. Ich besuche vor allem Parks, die Promenaden, die Prinzessinneninseln, aber auch die vielseitigen Viertel wie Balat, Moda, Kadıköy, Üsküdar, Beşiktaş oder Küçüksu. Wann immer sich die Möglichkeit ergibt, nehme ich die Fähre, denn auch wenn es oft nicht die praktischste Verbindung ist, bietet der Ausblick auf den Bosporus und die Möwen bei einem Çay einfach mehr als eine U-Bahnfahrt. Auf dem Plan für die nächsten Wochen stehen die ein oder andere Wanderung durch das Forschungsgebiet, mit dem Ziel, aktuelle Entwicklungen zu kartieren und mit Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen. Ich bin aufgeregt und hoffe es klappt so wie ich es mir vorstelle.
November 2024
Von der bunten Stadtvegetation gesäumt und im spätherbstlichen Licht getränkt, finde ich die Stadt nun besonders schön. Ich durfte inzwischen weitere Interviews mit Personen aus Wissenschaft und Planung Istanbuls führen, die mein Verständnis Stück für Stück erweitern, auch wenn die extreme Komplexität des Themas immer wieder deutlich wird und mich manchmal ganz schön einschüchtert. Das Arbeiten in einem Kontext, in dem ich nicht aufgewachsen bin, birgt viele Fehlerquellen. Gleichzeitig finde ich es besonders wertvoll und lehrreich, es zu versuchen, sich in andere Kontexte hineinzufühlen. Glücklicherweise habe ich ausreichend Menschen aus Istanbul, die mir allfällige Schwächen, Verzerrungen und Lücken aufzeigen und zu ihrer Überbrückung beitragen.
Endlich konnte ich auch den ersten Ausflug per Motorrad in mein Forschungsgebiet unternehmen – durch die Waldgebiete bis zur Küste am Schwarzen Meer, Gebiete, die unter rapider Transformation stehen. Die Route führte durch sowohl ländliche als auch semi-urbane Siedlungen, alte und neue Gated Communities, die die Hügellandschaft säumen.
Ein Besuch von meinem Freund aus Wien bot die Gelegenheit, dem Forschungsalltag kurz zu entfliehen und stattdessen ein bisschen Sightseeing zu genießen: die historischen Sehenswürdigkeiten auf der Halbinsel am Goldenen Horn, der Feriköy Flohmarkt und eine Gondelfahrt über den Maçka Park haben wir uns gegönnt, ebenso wie kulinarisch vieles, was die Stadt von Meze bis Desserts zu bieten hat. Auch kulturell hat die Stadt natürlich extrem viel zu bieten. Die Stadtregierung eröffnet neben den traditionellen Museen regelmäßig neue Orte, wie etwa Schulen, ein historisches Wohngebäude oder eine alte Gasfabrik für Ausstellungen und kulturelle Veranstaltungen.
Einer der Aspekte, der mir in Wien am meisten fehlt, sind die unglaublich vielen Straßentiere, die absolut überall in der Stadt anzutreffen sind. Jeder Weg durch die Stadt kann ganz nach Belieben durch Streicheleinheiten unterbrochen werden, und so gleicht kein Alltagsweg dem anderen. Der liebevolle Umgang mit Straßentieren in Istanbul ist zurecht legendär. Katzen und Hunde werden von den Bewohner*innen und der Stadtverwaltung so gut wie möglich gefüttert, geimpft, sterilisiert und mit offiziellen oder selbstgebauten Behausungen ausgestattet. Auch wenn neue staatliche Gesetze den Umgang mit Straßentieren maßgeblich zu erschweren versuchen, scheint die Zuneigung der Menschen ungebrochen. Nirgendwo sonst habe ich so zugängliche und kuschelige Straßenhunde und -katzen erlebt.
Mein Türkisch verbessere ich nun in wöchentlichen Tandem-Treffen mit einer Freundin aus Izmir und beim lauthalsen Mitsingen auf Konzerten meiner türkischen Lieblingsband, Duman. In meinen nächsten – und bereits letzten – Wochen werde ich vermehrt direkt in meinem Forschungsgebiet unterwegs sein und mich mithilfe meines Mitbewohners mit lokalen NGOs und Ansprechpartner*innen austauschen. Ich freue mich außerdem darauf, an einem veganen Picknick teilzunehmen, einer wöchentlichen Veranstaltung, bei der sich Veganer*innen und Interessierte treffen, um selbstgekochte vegane Gerichte auszuprobieren. Schon jetzt werde ich langsam sentimental, denn die Rückreise rückt erstaunlich schnell näher.