Titel

Dipl.-Ing.

Geburtsdatum und -ort

geb. 2.11.1921 in Baden bei Wien / geb. Taschek
derzeit wohnhaft in Lenzing, OÖ

 

Studienrichtung

Naturwissenschaften - Chemie
Abteilung für technische Chemie

Interviewdatum

23. Oktober 2012

Frau Lohr im Kurzinterview

Matr.-Nummer  665/1943
Studienjahre      1943/1944 bis 1952
2. Staatsprüfung und "Diplom-Ingenieur" am 17.11.1952

Schon meine Matura (Abitur) im Kriegsjahr 1940... anschließend einjährige Staats-Lehrerinnenbildungsanstalt mit Reifezeugnis ... anschließend Reichsarbeitsdienst­ - anschließend Kriegsdienstverpflichtung bei Fa. Siemens in Wien und in Berlin­ - nebenbei ab 1943 Studium Chemie an TU Wien - Bomben - Russische Besatzung - Kälte - Hunger - ..... und vor der TU im Resselpark: Wiens zentraler Schleichmarkt­handel....

An der TU Wien war ein Teil der Gebäude ausgebombt, überall Schutt, Strom und Gas nur für wenige Stunden, keine Heizung (in Fäustlingen in den Vorlesungen...), die ersten Burschen als "Heimkehrer" trafen 1946 in "die heiligen Hallen ..."ein.

Aber es wurde ernsthaft gelehrt, fleißig studiert, man versuchte einander zu helfen, es gab keine "Männer" und "Frauen", es gab nur "Kollegen", Freunde, hie und da Verlobte, keine Satten, nur permanent Hungrige... alle waren "schlank"... Aber: Jeder half jeden, man tauschte die Lehrbücher aus, prüfte einander ab vor den Examen, man half einander bei den Laborarbeiten, .... und sogar bei den "Strafarbeiten", die ehemalige  Nationalsozialisten beim Schutträumen auf der TU "ableisten"  mussten, halfen die "Heimkehrer-Soldaten" den schwachen und schwächlichen Kolleginnen... Freude und Genuss? Ja, dann wenn einem Kollegen, einer Kollegin eine Probe gut gelungen war, oder eine Prüfung gut vorbei war.... und Trost: Wenn's schief gegangen ist... und Vergnügen: Manchmal eine Einladung zu einem Kinobesuch nach erfolgreichem Labor....

Professoren: Nur wenige hatten mehr als einen Anzug - im Sommer und im Winter. Manchem sah man an, dass es ihnen "besser-ging", das waren jene, die sich bei den Behörden und manchen Betrieben einen Neben-Job als "öffentlicher Verwalter" oder "Berater" verschafft haben...

Wir waren alle "arm" - und merkten es nicht!
Wir waren fröhlich - und hatten so wenig bis gar nichts.
Wir waren zukunftssicher - nach all dem Desaster im und nach dem Krieg.
Wir glaubten einander - und konkurrenzierten einander nicht.
Wir vergnügten uns kaum - wie denn auch?
Wir sahen stets, dass es uns besser erging als so mancher Kollegin... die den ganzen Winter über den gleichen Pullover tragen musste, weil sie nichts anderes hatte.
Aber wir studierten, saugten das zu Erlernende gierig in uns hinein und waren überaus glücklich für den Stempel im Analysenheft "angenommen!"
Wir hatten einen guten Kontakt zu unseren Professoren, Dozenten, Assistenten­ - aber auch zu den Laboranten und den Verwaltungsbeamten: Alle waren "ganz lieb" zu uns!

Konkurrenz: Na, ja. Da gab es schon den einen oder anderen "Kollegen", der ein bisserl arroganter war, uns anhimmelte oder uns ruppig behandelte. Aber lang hielten diese Typen das nicht durch: Wir Mädchen-Frauen  waren schon recht resolut...

Eine Story noch:

1951 war es bei mir soweit: Ich war auch schon verheiratet (natürlich ist mein Mann auch TU-Chemiker) - und stand vor der Diplom-Hauptprüfung - schwanger. Eine Kollegin aus meiner Fakultät ebenfalls. Wir gingen zur "Anmeldung für die Diplom­-Hauptprüfung" zu unserem Dekan Dr. Strebinger... Dieser sah uns und die anderen Kandidaten der Reihe nach an... blieb vor meiner Kollegin stehen, schüttelte den Kopf, ging weiter, kam zu mir, seufzte tief und sagte laut und deutlich: "Na also, da müssen wir ja auch noch eine Hebamme engagieren!"... und lehnte unsere Anmeldung ab!

Meine Tochter Elisabeth wurde trotzdem "gut" geboren und wurde sogar eine Chemie-orientierte Pharmazeutin - nur meiner Kollegin und mir kostete es ein ganzes Jahr mehr bis zum Diplom!

Ich habe mir alle Links, die auf diesem Fragebogen angeführt sind, angesehen und sie gewissenhaft in Relation zu "meiner Zeit" gesetzt. Ich muss mich schon sehr "wundern", welche "Initiativen" heute anscheinend notwendig sind, um die Studentin und Absolventin der TU Wien zur "Gleichberechtigten" zu den "Männern" zu machen.

Wir Frauen von "damals" haben weder den "Pioniergeist" besessen, gleichsam auf irgendeiner Fakultät die Halbe-Halbe-Zahl an Studenten zu stellen, noch haben wir die Dominanz der Männer im Lehrbereich beanstandet. Dass etwa der Maschinenbau und die Elektrotechnik deutlich weniger "Frauen" ansprach als etwa die Chemie, war uns ganz klar. (das hat gewiss nichts damit zu tun gehabt, dass die "Frau an den Herd" (also ans Labor) konzipiert gewesen ist....).
Und dass die Lehre an der TU fast ausschließlich von Männer getragen war, war auch kein Relikt männerüberbetonter Taktik.

Wir Studentinnen hatten unsere Begeisterung an der Chemie in die Hörsäle und in die Labors getragen, und wir haben viel dazu beigetragen, dass die innere Offenheit, zu der wir als Mädchen und Frauen fähig sind, auch auf die Studenten und die Lehrenden überspringen konnte. Wir haben nicht primär an materielle Zukunfts­vorteile, also "hohe Positionen in der Forschung und Wirtschaft" gedacht - wir hatten Freude und Begeisterung für das Wissens- und Forschungspotential, das die Chemie besitzt, eingebracht.

Es gab deswegen auch kaum Kämpfe zwischen den Studenten und Studentinnen um Noten, Urteile, Publikationserfolge und Anerkennungen, sondern wir Frauen waren der ruhende Pol in einer Art "Liebe zur Chemie"!

Zukunftsaspekte? Wir haben nie das Gefühl gehabt, die Karriere nach dem Diplom ist es, was uns "Wohlstand und Glück auf dieser Welt" bringen wird. Wir wollten bloß durch unser Tun und unseren Einsatz die Chemie "weiterbringen", egal ob als Wissenschaftlerin, als Lehrerin oder als hochrenommierter lndustriechemiker.

Es tut mir fast weh, wenn ich allmählich die Erkenntnis - oder ist es bloß mein Gefühl? - aufkeimen sehe, dass eine materielle Komponente die "Liebe zur Chemie" zu übertünchen sich anschickt, in der die Männer-Frauen-Frage auch zum Argument statistischer Ergebnisse stilisiert wird.

Ich bin schon 91 Jahre alt. Mag vielleicht auch ein Argument sein, mich nicht  mehr "in" zu bewerten. Aber: Ich wurde Chemiker durch die TU Wien, nachdem mich mein Chemieprofessor im Realgymnasium für diese Richtung begeistert hat... Ich habe unter nicht gerade sorglosen Verhältnissen mich durchgekämpft.... Ich habe vielen jungen Menschen meine Liebe und meine Kenntnisse zur Chemie vermitteln können... Die Chemie hat einen guten Anteil an meinem Leben eingenommen, das unendlich glücklich verlaufen ist!

Ich wünsche allen Studierenden, dass sie heute schon das Fazit meiner jahrzehntelangen Freude erleben dürfen:
Student sein zu dürfen,
die gewählte Fakultät zu lieben,
die Früchte mehr den anderen als sich selbst zu schenken
und, was wir alle lieben "unsere Naturwissenschaft" höher zu bewerten als den materiellen oder statistischen Nutzen für sich selbst.