Presseaussendungen

Manchmal ist unendlich unendlicher als unendlich

Eine wichtige mathematische Erkenntnis wurde nun an der TU Wien bewiesen – dabei geht es um den komplizierten Zusammenhang zwischen verschiedenen Unendlichkeiten.

Martin Goldstern (links) und Jakob Kellner (rechts)

Martin Goldstern (links) und Jakob Kellner (rechts)

(Foto-Download und Verwendung honorarfrei © TU Wien)

Wieviel ist zwei hoch unendlich? Ist es mehr als unendlich plus unendlich? Tatsächlich gibt es verschiedene Arten von Unendlichkeit – manche Unendlichkeiten sind sogar unendlich viel größer als andere. Zu untersuchen, welche Arten von Unendlichkeit es geben kann und wie sie miteinander zusammenhängen, ist eines der zentralen Forschungsgebiete von Logik und Mengenlehre.

Ein bisschen Struktur in die Hierarchie der Unendlichkeiten bringt „Cichons Diagramm“: Es beinhaltet zehn unterschiedlich definierte Unendlichkeiten und gibt an, in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Bisher war aber unklar, wie viele unterschiedliche Unendlichkeiten es in Cichons Diagramm geben kann. Nun gelang den Mathematikern Prof. Martin Goldstern und Jakob Kellner von der TU Wien gemeinsam mit ihrem Kollegen Saharon Shelah von der Universität Jerusalem ein wichtiger Beweis: Alle Unendlichkeiten in diesem Diagramm können unterschiedlich unendlich sein. Die Vielfalt dieser Unendlichkeiten ist maximal groß. Diese Erkenntnis wurde nun in den „Annals of Mathematics“ publiziert, einem der bedeutendsten Mathematik-Fachjournale der Welt.

Die Hälfte von unendlich ist unendlich

Was ist größer – die Menge der natürlichen Zahlen oder die Menge der positiven geraden Zahlen? Nur jede zweite natürliche Zahl ist eine gerade Zahl, man könnte also glauben, dass die Menge der geraden Zahlen kleiner sein muss – doch die Mengentheorie sieht das nicht so: Man kann die Elemente beider Mengen eindeutig aufeinander abbilden. Die gerade Zahl Nummer eins ist die Zwei, die gerade Zahl Nummer zwei ist die Vier, und so weiter. Jede Zahl bekommt ihren eindeutigen Partner aus der anderen Menge, daher sind beide gleich groß.
Wie ist das aber mit der Menge der reellen Zahlen auf dem Zahlenstrahl mit unendlich vielen Nachkommastellen? Es gibt keine Möglichkeit, sie durchzunummerieren. Die Unendlichkeit aller Zahlen ist noch einmal größer als die Unendlichkeit der ganzen Zahlen. Man sagt, es sind „überabzählbar unendlich“ viele.

Die Frage ist nun: Gibt es irgendetwas dazwischen? Gibt es eine Menge, die mehr Elemente hat als die Menge der natürlichen Zahlen, aber weniger als die Menge der reellen Zahlen? Der große Mathematiker Georg Cantor glaubte das nicht und formulierte 1878 die Kontinuumshypothese: Wenn eine Menge größer ist als die der natürlichen Zahlen, dann muss sie zumindest gleich groß sein wie die Menge der reellen Zahlen. (Darüber hinaus lassen sich freilich noch Unendlichkeiten konstruieren, die noch viel größer sind.)

Eine Hierarchie der Unendlichkeiten

Viele Leute versuchten, die Kontinuumshypothese zu beweisen – allerdings umsonst: In den 1960er Jahren wurde schließlich bewiesen, dass sich die Hypothese nicht beweisen lässt. „Doch unabhängig davon, ob die Kontinuumshypothese stimmt oder nicht, kann man etwas Struktur in die Hierarchie der Unendlichkeiten bringen“, sagt Dr. Jakob Kellner, der gemeinsam mit Prof. Martin Goldstern am Institut für Diskrete Mathematik und Geometrie der TU Wien forscht.

Man kann eine ganze Reihe von Unendlichkeiten definieren und ihre Beziehungen zueinander untersuchen. „Wenn man aus den möglichen Unendlichkeits-Definitionen bestimmte Paare herausgreift und beweist, dass eine größer oder gleich der anderen sein muss, entsteht eine Hierarchie der Unendlichkeiten“, sagt Martin Goldstern. Durch diese Beziehungen ergibt sich eine netzartige Struktur, die in der Mathematik als „Cichons Diagramm“ bekannt ist. Insgesamt zehn unterschiedliche Definitionen unendlich großer Zahlen werden in diesem Diagramm in Relation gesetzt. Doch bisher wurden immer nur einzelne Verbindungen in diesem Netz untersucht, sich einen globalen Überblick über Cichons Diagramm zu verschaffen, ist viel schwieriger. Und so war lange Zeit unklar, wie viel Freiheit für unterschiedliche Unendlichkeiten das Diagramm tatsächlich zulässt: Wie viele von ihnen dürfen verschieden sein? Gibt es in diesem Diagramm vielleicht eine Menge von drei Einträgen, von denen zwei logisch zwingend gleich sein müssen?

„Wenn man annimmt, dass die Kontinuumshypothese stimmt, dann ist die Sache ganz einfach: Dann ist zwischen der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen und der Unendlichkeit der reellen Zahlen keine weitere Sorte von Unendlichkeit möglich und alle Einträge im Diagramm sind gleich“, sagt Jakob Kellner. Wenn man die Gültigkeit der Kontinuumshypothese allerdings nicht voraussetzt, sieht die Sache völlig anders aus: Wie Goldstern, Kellner und Shelah zeigen konnten, sind tatsächlich zehn verschiedene Einträge möglich. Cichons Diagramm erlaubt hier die größte Vielfalt an Unendlichkeiten, die überhaupt denkbar ist.

Auch wenn dieses lang diskutierte Rätsel um Cichons Diagramm nun gelöst ist, bleibt die Untersuchung und Charakterisierung von Unendlichkeiten weiterhin ein wichtiges Forschungsgebiet der Mathematik – auch eineinhalb Jahrhunderte nach Georg Cantor. Auch die Menge der mathematischen Rätsel rund um die Unendlichkeit dürfte unendlich groß sein.

Originalpublikation

Annals of Mathematics, Vol. 190, No. 1 (July 2019), pp. 113-143.
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Kontakt

Dr. Jakob Kellner
Institut für Diskrete Mathematik und Geometrie
Technische Universität Wien
Wiedner Hauptstraße 8–10, 1040 Wien
jakob.kellner@tuwien.ac.at

Prof. Martin Goldstern
Institut für Diskrete Mathematik und Geometrie
Technische Universität Wien
Wiedner Hauptstraße 8–10, 1040 Wien
T +43-1-58801-10410
martin.goldstern@tuwien.ac.at


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