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Klebrige Elektronen: Aus Abstoßung wird Anziehung

Seit Jahren ist man an der TU Wien merkwürdigen Phänomenen auf der Spur – nun fanden sie eine Erklärung, die helfen könnte, unkonventionelle Arten von Supraleitung zu verstehen.

Drei Wissenschaftler auf dem Wiener Karlsplatz

Das Team

Patrick Chalupa, Matthias Reitner, Alessandro Toschi (v.l.n.r.)

Materialien können völlig unterschiedliche Eigenschaften annehmen – abhängig von Temperatur, Druck, elektrischer Spannung oder anderen physikalischen Größen. In der theoretischen Festkörperphysik versucht man mit Hilfe modernster Computermodelle diese Eigenschaften genau zu verstehen. Manchmal funktioniert das gut, manchmal treten allerdings merkwürdige Effekte auf, die nach wie vor rätselhaft erscheinen – wie etwa bei der Forschung an der Hochtemperatur-Supraleitung.

Schon vor einigen Jahren konnte man an der TU Wien mathematisch klären, wo die Grenze verläuft zwischen dem Bereich, der sich an die bekannten Regeln hält, und dem Bereich, in dem ungewöhnliche Effekte eine wichtige Rolle spielen. Nun gelang es mit Hilfe aufwändiger Berechnungen auf Supercomputern, erstmals zu erklären, was beim Überschreiten dieser Grenze genau passiert: Zur Abstoßung zwischen den Elektronen kommt dann plötzlich eine zusätzliche, anziehende Kraft hinzu, die völlig kontraintuitive Effekte ermöglicht. Ähnlich wie sich Wassermoleküle zu Tröpfchen verbinden, können sich dann die Elektronen an bestimmten Stellen zusammenfinden, so als würden sie teilweise aneinanderkleben. Die Ergebnisse, die im Rahmen einer internationalen Kooperation der TU Wien, der Universität Würzburg, der Universität L’Aquila sowie der Georgetown University in Washington D.C. entstanden sind, wurden nun im Fachjournal „Physical Review Letters“ publiziert.

Bis ins Unendliche – und darüber hinaus

„Elektronen sind negativ geladen, sie stoßen einander ab. Deshalb werden Elektronen, die sich durch das Material bewegen, an anderen Elektronen gestreut“, sagt Prof. Alessandro Toschi vom Institut für Festkörperphysik der TU Wien. „Diese Streuung ist aber nicht immer gleich stark. Es kann nämlich sein, dass in dem Material die Abstoßung zwischen den Elektronen abgeschirmt wird. Das hängt von vielen Faktoren ab, etwa von der chemischen Zusammensetzung des Materials.“

Genau an der Grenzlinie zwischen dem gut erklärbaren Bereich und dem Bereich ungewöhnlicher Effekte wird durch die mangelnde Abschirmung die Streuung zwischen den Elektronen theoretisch unendlich stark. Man spricht dann von „Singularitäten“ – und diese Singularitäten stellen die Forschung vor große Herausforderungen. „Lange wurde sehr kontrovers diskutiert: Haben diese Singularitäten tatsächlich eine echte physikalische Bedeutung?“ sagt Patrick Chalupa, der im Rahmen seiner Dissertation in Alessandro Toschis Arbeitsgruppe an diesem Problem forscht. „Diese Frage konnten wir beantworten: Ja, diese Singularitäten sind nicht bloß eine mathematische Kuriosität, sondern der Schlüssel zu einem besseren Verständnis wichtiger Materialeffekte.“, sagt Matthias Reitner, der seine Diplomarbeit zu diesem Thema verfasst hat.

Nähert man sich der mathematischen Grenze, wird die Abstoßung immer größer, an der Grenze wird die entsprechende Streuung zwischen den Elektronen unendlich groß, doch wenn man die Grenze überschreitet, geschieht etwas Überraschendes: Die Abstoßung ruft plötzlich eine zusätzliche Anziehung hervor. Diese effektive Anziehung zwingt die Elektronen dazu, sich an bestimmten Stellen auf engem Raum zusammenzufinden, so als ob sie teilweise aneinanderkleben würden. Diese drastische Veränderung des Verhaltens hängt eng mit dem Auftreten der Singularitäten zusammen.

Phasenübergang, ähnlich wie Wasserdampf

„Es ergibt sich eine Situation, die an flüssiges Wasser und Wasserdampf erinnert“, sagt Alessandro Toschi. „Auch da ergibt sich unter bestimmten Bedingungen eine Anziehungskraft zwischen den Wassermolekülen. Sie binden sich aneinander und erzeugen ein Gemisch aus flüssigen Tröpfchen, und gasförmigem Dampf. Der Ursprung dieser Anziehung ist jedoch in den beiden Fällen komplett unterschiedlich.“

Erstmals ist es gelungen, ein detailliertes Bild davon zu erhalten, was in solchen Situationen aus materialwissenschaftlicher Sicht auf mikroskopischer Ebene geschieht. „Damit kann man jetzt auch genau verstehen, warum bestimmte mathematische Ansätze, sogenannte perturbative Methoden, nicht das richtige Ergebnis geliefert hatten“, sagt Patrick Chalupa.

Diese neue mikroskopische Einsicht könnte ein fehlendes Puzzleteil für das theoretische Verständnis der sogenannten unkonventionellen Supraleiter sein. Das sind Materialien, die auf Eisen, Kupfer oder Nickel basieren und unter gewissen Bedingungen bis zu verblüffend hohen Temperaturen supraleitend sein können. „Vielleicht können wir damit endlich einige der wesentlichen Fragen beantworten, die seit der Entdeckung dieser geheimnisvollen Materialien vor 40 Jahren immer noch offen sind“, hofft Matthias Reitner.

Originalpublikation

M. Reitner et al., Attractive Effect of a Strong Electronic Repulsion: The Physics of Vertex Divergences, Phys. Rev. Lett. 125, 196403 (2020)., öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

Kontakt

Prof. Alessandro Toschi
Institut für Festkörperphysik
Technische Universität Wien
+43-1-58801-13762
alessandro.toschi@tuwien.ac.at

Dipl.-Ing. Patrick Chalupa
Institut für Festkörperphysik
Technische Universität Wien
+43-1-58801-13758
patrick.chalupa@tuwien.ac.at

Aussender:

Dr. Florian Aigner
Büro für Öffentlichkeitsarbeit
Technische Universität Wien
Resselgasse 3, 1040 Wien
+43-1-58801-41027
florian.aigner@tuwien.ac.at