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Das empfindlichste Experiment der Welt wird von KI gesteuert

Große, aufwändige Experimente suchen nach der “Dunklen Materie”. Ein österreichisches Forschungsteam hat nun gezeigt, wie künstliche Intelligenz dabei helfen kann.

Teamfoto im Büro

Wolfgang Waltenberger, Florian Reindl, Jochen Schieck (stehend), Felix Wagner (v.l.n.r.)

Die Suche nach neuen Teilchen erfordert oft sensible Detektoren und diese wiederum eine sensible Kalibration ihrer Kontrollparameter. Um diese Kalibration in Zukunft effizienter zu gestalten, haben ForscherInnen des HEPHY Wien und der TU Wien ein KI-System eingesetzt, und damit Detektoren des CRESST-Experiments kalibriert - ein für zukünftige Experimente wegweisender Schritt. Dieses Projekt wurde nun im Journal “Computing and Software for Big Science” publiziert.

Eine der größten offenen Fragen der modernen Physik ist die nach der Natur der Dunklen Materie. Es gibt unwiderlegbare Beweise dafür, dass diese Art von Materie, die noch nicht direkt gemessen werden konnte, existieren muss, und zahlreiche Experimente beschäftigen sich mit der Suche danach. “Wenn es sich bei der Dunklen Materie um ein Teilchen handelt, wovon wir ausgehen, dann ist auf der Erde je ein Dunkle Materie Teilchen etwa in dem Volumen einer Kaffeetasse vorhanden”, erklärt Jochen Schick, Leiter des Instituts für Hochenergiephysik (HEPHY) und Professor an der Technischen Universität in Wien.

Die Wechselwirkung mit einem solchen Teilchen zu messen, ist das Ziel des CRESST-Experiments, bei dem hochempfindliche Detektoren in einem Labor betrieben werden, das extrem gut gegen Hintergrundstrahlung abgeschirmt ist: den Laboratori Nazionali del Gran Sasso, etwa zwei Stunden Busfahrt östlich von Rom.

Eiskalte Kristalle und Bruchteile von Gehirnströmen

Ein solcher Detektor besteht aus einem Kristall, auf den ein Metallfilm aufgedampft ist. Das Metall, Wolfram, ein sogenannter Supraleiter, ändert seinen elektrischen Widerstand bei einer bestimmten, sehr tiefen Temperatur sehr plötzlich. Diese Temperatur liegt bei etwa 10 Millikelvin oder -273,14 Grad Celsius, also knapp über dem absoluten Temperaturnullpunkt.

Wenn das System genau auf diese Temperatur abgekühlt wird, löst ein einziger Aufprall eines Dunkle-Materie-Teilchens genügend Schwingungen im Kristallgitter aus, um den Metallfilm leicht zu erwärmen und seinen elektrischen Widerstand drastisch zu ändern. Dies wiederum erzeugt ein elektronisches Signal, das gemessen werden kann. “Mit dieser Technologie können wir Energien von einzelnen Elektronenvolt auflösen. Das ist etwa ein Milliardstel der Energie, die eine Gehirnzelle zum Feuern benötigt”, erklärt Florian Reindl, Assistenzprofessor an der TU Wien.

Selbstlernende Kontrolle ermöglicht größere Experimente

Die Kalibration solcher Detektoren, nämlich der Gleichgewichtstemperatur und des Stroms, ist daher delikat. Diese Aufgabe wurde für das CRESST-Experiment bisher mit einer halbautomatischen Methode durchgeführt, die für jeden Detektor eine individuelle Justierung erfordert. “Jeder Detektor ist sozusagen ein Individuum”, sagt Felix Wagner, der kürzlich sein Doktorat am HEPHY und der TU Wien abgeschlossen hat. “Meist haben wir einen Nachmittag pro Detektor für diese Aufgabe reserviert, oft dauert es noch länger.”

Dieser Zeitaufwand ist für kleinere Experimente leistbar, aber problematisch für zukünftige Experimente, in denen Hunderte dieser Detektoren betrieben werden sollen. Künstliche Intelligenz, insbesondere Reinforcement Learning, kann das Verhalten eines Systems live lernen, während es gesteuert wird. Wolfgang Waltenberger, Senior Scientist am HEPHY, stellt dazu einen Vergleich auf: “Das ist vergleichbar mit einem Menschen, der ein neues Auto fährt. Jedes Auto reagiert ein wenig anders, und während der Probefahrt lernt die Fahrerin, mit den Eigenheiten des Fahrzeugs optimal umzugehen.”

Das Team startete daher ein Projekt, um die Kalibrierung solcher Detektoren mit Reinforcement Learning zu testen. Dieses wurde von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) mitfinanziert. "Das war eine umfangreiche Aufgabe, da wir zunächst skeptisch waren, eine KI, die noch nie einen Detektor gesteuert hat, an unserer Hardware arbeiten zu lassen.", meint dazu Wagner. Doch nachdem die Ergebnisse in einer eigens entwickelten Simulation überzeugend waren, wurde der Versuch in der realen Welt gewagt.

Im Februar 2023 testeten die Forscher ihre Methode in einem dafür gewidmeten Zeitfenster am CRESST-Experiment. Die KI konnte alle Detektoren, an denen sie getestet wurde, innerhalb von etwa 90 Minuten mit zufriedenstellenden Ergebnissen kalibrieren. “Diese Ergebnisse sind ein Proof-of-Principle, dass unsere Methode hervorragend geeignet ist, um es mit künftigen, großen experimentellen Aufbauten aufzunehmen”, freut sich Wagner. “Damit ermöglichen wir Skalierbarkeit ohne Qualitätsverlust.”

Künftig autonome Experimente?

Das Forschungsprojekt war eine Kooperation mit dem Center for Artificial Intelligence and Machine Learning (CAIML) und dem Forschungsbereich Maschinelles Lernen der Fakultät für Informatik der TU Wien. “Es ist zu erwarten, dass Reinforcement Learning in Zukunft vermehrt zur autonomen Steuerung von Geräten eingesetzt wird. Das ist unter anderem für die Automatisierung von Experimenten interessant, um Forscher in ihrer Arbeit noch effizienter voranzubringen, wie es hier geschehen ist”, erklärt Clemens Heitzinger, Professor an der TU Wien und Leiter des CAIML.

Die Kalibrationsmethode mit Reinforcement Learning soll künftig im Zuge eines für 2025 geplanten Hardware-Upgrades als fixer Bestandteil in die Steuerung des CRESST-Experiments integriert werden. Die Elektronik für dieses Upgrade wird am HEPHY hergestellt.

Originalpublikation

G. Angloher et al., Optimal Operation of Cryogenic Calorimeters Through Deep Reinforcement Learning. Comput Softw Big Sci 8, 10 (2024)., öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster