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COVID-19: Computermodell zeigt mögliche Szenarien auf

Neue Simulationsergebnisse über die Corona-Epidemie: Eine weitere Verschärfung der Maßnahmen für alle wäre nicht sinnvoll. Erste Modelle über eine schrittweise Rücknahme der Maßnahmen wurden berechnet.

COVID19-Szenarien

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COVID19-Szenarien

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Abbildung 1

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Abbildung 1

Einfluss der Kontaktreduktion auf Epidemiekurve. Analysierte Szenarien mit Reduktion der Kontakte um 36% bis zu 94%. Download und Verwendung honorarfrei, Copyright: TU Wien / dwh

Abbildung 2

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Effekt der unkontrollierten Rücknahme aller Maßnahmen. Simuliert wurden Maßnahmen mit 84%er Reduktion der Freizeitkontakte über Zeitraum von 2 bis 14 Wochen. Download und Verwendung honorarfrei, Copyright: TU Wien / dwh

Abbildung 3

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Abbildung 3

Kontrollierte Rücknahme der Maßnahmen. Vergleich der aktuellen Maßnahmen (schwarze Linie) mit Öffnung der Arbeitsstätten nach Ostern, Öffnung von Arbeitsstätten nach Ostern und Schulen zur Matura (4. Mai). Download und Verwendung honorarfrei, Copyright: TU Wien / dwh

Die Vorhersagen sind eingetroffen: Die Zahl der Mensch-zu-Mensch-Kontakte wurde reduziert, dadurch kann die Ausbreitung von COVID-19 verlangsamt werden. Aber reicht das aus? Wären noch drastischere Vorschriften nötig, wie sie etwa in China ergriffen worden sind?

Simulationsrechnungen der TU Wien und des TU-Spin-Offs dwh zeigen: Eine noch drastischere Einschränkung der Kontakte hätte ab einem gewissen Punkt kaum zusätzlichen Nutzen. Falsch wäre es allerdings, zu rasch wieder zum normalen Alltagsleben zurückzukehren. Dann würde sich die Epidemie nämlich sofort wieder sehr rasch ausbreiten und die Vorsichtsmaßnahmen der letzten zwei Wochen wären umsonst gewesen. Empfohlen wird, in den nächsten Wochen und Monaten die Maßnahmen schrittweise zurückzunehmen.

Punktuell eingeführte, gut durchdachte Maßnahmen - etwa die Zahl der Kontakte bei Risikogruppen einzuschränken - kann natürlich sinnvoll sein.

Zusammendrücken wie einen Schwamm

Auch wenn die derzeitigen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Epidemie schon sehr einschneidend sind – theoretisch könnte man noch weit darüber hinausgehen. Man könnte öffentliche Verkehrsmittel stilllegen, noch mehr Betriebe schließen oder sogar ein generelles Ausgangsverbot verhängen.

„Unsere Simulationsrechnungen zeigen allerdings ganz klar, dass ab einem gewissen Punkt eine weitere Verschärfung keinen spürbaren Nutzen mehr bringt“, sagt Niki Popper, Leiter des Forschungsteams. „Man kann sich das vorstellen wie bei einem nassen Schwamm: Je mehr Druck man ausübt, umso mehr Wasser kann man herausdrücken. Aber irgendwann ist der Schwamm völlig komprimiert, und dann hat zusätzlicher Druck kaum noch eine Auswirkung.“

Das Forschungsteam analysiert daher nun, auf welche Weise die Maßnahmen wieder gelockert werden könnten. „Eines ist klar: Sofort wieder zum gewohnten Alltag zurückzukehren, wäre jetzt falsch“, betont Niki Popper. „Wir gehen davon aus, dass bei Beibehaltung der aktuellen Maßnahmen der Höhepunkt der Krankheitsfälle bald erreicht wird und danach die Fallzahlen zurückgehen. Wenn die Kontaktzahl aber dann sofort wieder auf das früher übliche Niveau ansteigt, dann wird auch die Zahl der Krankheitsfälle sehr rasch wieder zunehmen, so ähnlich wie sich ein zusammengedrückter Schwamm sofort wieder ausdehnt, wenn man den Druck wegnimmt.“

Eine solche zweite Corona-Welle, verursacht durch ein übereiltes Ende der Maßnahmen, könnte innerhalb kurzer Zeit zu deutlich höheren Krankheitszahlen führen als wir sie derzeit beobachten. Gewisse Vorsichtsmaßnahmen werden wir also noch längere Zeit ergreifen müssen.

Schrittweise Rücknahme: Drei Szenarien

Das Forschungsteam analysiert derzeit daher unterschiedliche Szenarien: Exemplarisch wurden nun drei mögliche Szenarien durchgerechnet. "Welche Varianten nun tatsächlich konkret diskutiert und ins Auge gefasst werden, liegt natürlich an den Entscheidungsträgern", sagt Niki Popper.

Derzeit sind Schulen und ca. 25 % der Arbeitsstätten geschlossen, bei den Freizeitkontakten wird im Modell eine Reduktion von 50 % angenommen. Würde man dieses Maßnahmenpaket voll beibehalten, würde die Zahl der COVID-19-Kranken über den Sommer kontinuierlich zurückgehen (siehe Abbildung 3).

Ein kontinuierlicher Rückgang der Krankheitszahlen ergibt sich allerdings auch in einem zweiten Szenario, bei dem nach Ostern die Arbeitsstätten wieder geöffnet werden. Schulen bleiben in diesem Szenario geschlossen, die Freizeitkontakte bleiben weiter reduziert. Der Rückgang der Krankheitszahlen wäre dann langsamer, aber das Gesundheitssystem käme nicht an seine Belastungsgrenze.

In einem dritten Szenario wird davon ausgegangen, dass Arbeitsstätten ab Ostern wieder geöffnet werden und am 4. Mai (zwei Wochen vor der Matura) auch die Schulen wieder ihren normalen Betrieb aufnehmen. Nur die Kontaktanzahl in der Freizeit bleibt weiterhin um 50 % reduziert. In diesem Fall kommt es nach den Berechnungen zwar nicht zu einem explosiven Anstieg der Krankheitszahlen, wie das bei einem abrupten totalen Ende der Maßnahmen der Fall wäre, aber die Krankheitszahlen würden trotzdem steigen und das Niveau der derzeitigen ersten Welle übertreffen.

„Freilich sind langfristige Prognosen immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet“, betont Niki Popper. „Es ist wichtig, die Modelle Woche für Woche weiter zu verbessern und an das neueste Datenmaterial anzupassen. Je mehr wir über die Ausbreitung von COVID-19 lernen, umso zuverlässiger wird auch unser Blick in die Zukunft sein.“

Nähere Information zum Simulationsmodell (PDF), öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

Kontakt

Dr. Niki Popper
Institut für Information Systems Engineering
Technische Universität Wien
nikolas.popper@tuwien.ac.at

Aussender:
Dr. Florian Aigner
PR und Marketing
Technische Universität Wien
Resselgasse 3, 1040 Wien
florian.aigner@tuwien.ac.at

 

Zusatzinformation

A) Wissenschaftlicher Hintergrund des Modells

Gewisse Aspekte einer Krankheitsausbreitung mögen zwar mit einfachen mathematischen Modellen erklärbar sein – etwa mit Differentialgleichungen, die auf Exponentialfunktionen bzw. logistische Funktionen führen und dann an vorhandenes empirisches Datenmaterial angepasst werden können. Derart komplexe Fragestellungen, wie sie hier beschrieben werden, lassen sich aber nur mit Hilfe einer individuenbasierten Simulationsstrategie beantworten[1]. Das bedeutet, dass jeder Mensch als kleines Simulationsmodell (Digital Twin) innerhalb eines großen Gesamtmodells betrachtet wird. Einzelne virtuelle Personen werden im Modell über den Zeitverlauf verfolgt.

Aus diesem Grund ist das COVID-19-Simulationsmodell von TU Wien und dwh ein agentenbasiertes Modell, das auf Vorarbeiten aus unterschiedlichen Projekten aufbaut und über Jahre hinweg entwickelt und validiert wurde.

Zugrunde liegt ein stochastisches agentenbasiertes Populationsmodell (GEPOC[2]) das im Rahmen des Comet K-Projektes DEXHELPP[3] entstanden ist und bereits mit Erfolg als Basis für unterschiedliche Simulationsfragestellungen aus dem Gesundheitsbereich eingesetzt wurde (z.B. für die Evaluierung von Rehospitalisierungsraten psychiatrischer Patient_innen[4] oder für die Auswertung der MMR- und Polio Durchimpfungsraten[5]).

Um das Modell zu validieren, zu verifizieren und um die Reproduzierbarkeit der Resultate sicherzustellen wurden anerkannte State-of-the-Art-Methoden verwendet (siehe beispielsweise[6]).

Die aktuell verwendete Epidemie-simulation fußt auf einem im Vorprojekt IFEDH[7] entwickelten Influenza Simulationsmodell[8], mit dessen Hilfe in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Gesundheitssystem bereits neue Erkenntnisse im für den Verlauf der jährlichen Krankheitswelle erzielt werden konnten[9]. Die Kontaktmodelle fußen auf Daten der POLYMOD Studie[10] und auf daraus entwickelten Kontaktmodellen[11][12].

B) Modellparameter und Kalibrierung

Jedes komplexe Modell kann nur so gut sein wie die Daten, auf die es zugreift. Um eine valide Funktionalität des Modells zu garantieren, ist es von entscheidender Bedeutung, hochqualitatives Datenmaterial nutzen zu können. Das agentenbasierte COVID-19-Modell (inklusive dem zugrundeliegenden Populationsmodell) beinhaltet 40-60 Parameter, die korrekt spezifiziert werden müssen.

Viele der Parameterwerte, wie beispielsweise die Bevölkerungsstruktur Österreichs oder die Anzahl und geographische Lage der Krankenanstalten, lassen durch Datenrecherche direkt ermitteln. Bei Größen, die schwieriger zu ermitteln sind, etwa bei der Inkubationszeit oder der Modellierung der Kontakte pro Tag, kann man nur auf Schätzungen aus der Literatur oder auf Expertenmeinungen zurückgreifen. Darüber hinaus enthält das Modell auch Parameter, die prinzipiell unmessbar sind. Das betrifft unter anderem einen der wichtigsten Parameter des Modells, nämlich die für COVID-19 spezifische Infektionswahrscheinlichkeit, d.h. die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kontakt zwischen einer infektiösen und einer suszeptiblen Person tatsächlich zu einer Ansteckung führt.

Solche Werte können nur im Rahmen eines Kalibrierungsprozesses ermittelt werden. Dabei werden mithilfe einer eigens dafür entwickelten Kalibrierungs-Metaheuristik ein oder mehrere Modellparameter so lange variiert, bis der Modelloutput mit gewissen bekannten Referenzwerten übereinstimmt. (Die Metaheursitik entspricht im Wesentlichen einem Bisektionalgorithmus, der die Simulation in einem Monte Carlo Setting auswertet um stochastische Schwankungen abzufangen.)

Im konkreten Fall der Infektionswahrscheinlichkeit wird die Gesamtzahl an Infektionen (Quelle: AGES) als Kenngröße verwendet. Die beobachteten Erkrankungszahlen können reproduziert werden, wenn man die Infektionswahrscheinlichkeit so festlegt, dass eine infizierte Person im Schnitt 1.6 weitere Personen ansteckt. Diese Größe hat einen direkten Einfluss auf die Rate des exponentiellen Wachstums der Krankheitsfälle in der Anfangsphase der Krankheitsausbreitung, bevor einschränkende Maßnahmen ergriffen wurden.


[1] F. Miksch, B. Jahn, K. J. Espinosa, J. Chhatwal, U. Siebert, and N. Popper, “Why should we apply ABM for decision analysis for infectious diseases?—An example for dengue interventions,” PLoS ONE, vol. 14, no. 8, p. e0221564, Aug. 2019, doi: 10.1371/journal.pone.0221564.

[2] M. Bicher, C. Urach, and N. Popper, “GEPOC ABM: A Generic Agent-Based Population Model for Austria,” in Proceedings of the 2018 Winter Simulation Conference, Gothenburg, Sweden, 2018, pp. 2656–2667.

[3] N. Popper, F. Endel, R. Mayer, M. Bicher, and B. Glock, “Planning Future Health: Developing Big Data and System Modelling Pipelines for Health System Research,” SNE Simulation Notes Europe, vol. 27, no. 4, pp. 203–208, Dec. 2017, doi: 10.11128/sne.27.tn.10396.

[4] G. Zauner, C. Urach, M. Bicher, N. Popper, and F. Endel, “Microscopic modelling of international (re-)hospitalisation effects in the CEPHOS-LINK setting,” International Journal of Simulation and Process Modelling, vol. 3, no. 14, pp. 261–279, Jan. 2019, doi: 10.1504/IJSPM.2019.101012.

[5] www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Impfen/Masern---Elimination-und-Durchimpfungsraten/Durchimpfungsraten---Nationaler-Aktionsplan.html, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster


www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Impfen/Poliomyelitis,-Eradikation-und-Durchimpfungsraten.html, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

[6] J. Ruths, N. Popper, and F. Miksch, “VOMAS for Validation of Agent-based Models – Requirements and Application,” in Tagungsband ASIM 2016 23. Symposium Simulationstechnik, Dresden, Germany, 2016, pp. 231–237.

[7] N. Popper, I. Wilbacher, and F. Breitenecker, “IFEDH - solving health system problems using modelling and simulation,” in Proceedings of the International Workshop on Innovative Simulation for Health Care 2012, Vienna, 2012, pp. 127–132.

[8] F. Miksch, “Mathematische Modelle für neue Erkenntnisse über Epidemien mittels Herdenimmunität und Serotypenverschiebung,” Dissertation, Inst. f. Analysis und Scientific Computing, Vienna University of Technology, Vienna, 2012.

[9] F. Miksch et al., “New Insights on the Spread of Influenza Through Agent Based Modeling,” Value in Health - The Journal of the International Society for Pharmacoeconomics and Outcomes Research, vol. 14, no. 7, Nov. 2011.

[10] J. Mossong et al., “POLYMOD social contact data,” 2017.

[11] G. Schneckenreither and N. Popper, “Dynamic multiplex social network models on multiple time scales for simulating contact formation and patterns in epidemic spread,” in Proceedings of the 2017 Winter Simulation Conference, Las Vegas, Nevada, 2017, pp. 4324–4335.

[12] F. Miksch, G. Zauner, N. Popper, and F. Breitenecker, “Agent-Based Population Models For Household Simulation,” in Proceedings of the 7th EUROSIM Congress on Modelling and Simulation, Prague, Czech Republic, 2010, vol. Vol. 2 Full Papers (CD), pp. 567–572.