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Beim Hochwasserschutz muss man in Jahrhunderten denken

Eine wissenschaftliche Großveranstaltung in Wien: 12.000 Gäste werden bei der Generalversammlung der Europäischen Geowissenschaftlichen Union erwartet. Die TU Wien präsentiert dort neue Zugänge zur Hochwasserschutz-Forschung.

Hochwasser

© Matthias M. Muggli

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Hochwasser in Wien, 2013

Hochwasser in Wien

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Wenn nach einer Hochwasserkatastrophe ein neuer Damm gebaut wird – würden Sie dort Ihr Haus bauen? Würden Sie sich sicher fühlen, oder hätten Sie Angst vor einem weiteren, noch größeren Hochwasser?

Gesellschaftliches Verhalten und die Auswirkungen von Naturkatastrophen lassen sich nur gemeinsam verstehen, daher wird in der Hochwasserforschung an der TU Wien beides im neuen Forschungsgebiet der Sozio-Hydrologie vereint. Rechenmodelle, die sowohl gesellschaftliche Entwicklungen als auch Naturkatastrophen abbilden, zeigen: Um Hochwassergefahr beurteilen zu können, genügt es nicht, einige Jahrzehnte zurückzublicken. Man muss in Jahrhunderten denken.

Von 12. bis 17. April 2015 treffen sich etwa 12.000 Forscherinnen und Forscher in Wien bei der Generalversammlung der Europäischen Geowissenschaftlichen Union (EGU) – der Präsident dieser Vereinigung ist Prof. Günter Blöschl von der TU Wien. Er und sein Team werden dort dem internationalen Publikum unter anderem die neuen Erkenntnisse aus der Soziohydrologie vorstellen.

Rechenmodelle für Wasser und Mensch
Hochwasserkatastrophen versucht man schon lange in mathematischen Formeln zu gießen. Man kann etwa die statistische Verteilung vergangener Hochwasserereignisse studieren, und stellt dabei fest, dass sie nicht in rein zufälligen Abständen auftreten. Es gibt jahrzehntelange Phasen mit hoher Hochwasserhäufigkeit, dazwischen gibt es ruhigere Zeiten.
Doch nicht nur die Kräfte der Natur lassen sich mathematisch beschreiben, auch die Reaktion der Gesellschaft auf solche Ereignisse versucht man an der TU Wien mit Formeln zu erklären. „In unserem Modell berücksichtigen wir, dass unterschiedliche Gesellschaften unterschiedlich mit Hochwasser umgehen“, sagt Blöschl. Eine technisierte Gesellschaft reagiert eher mit der Errichtung von Dämmen und Deichen. In einer „grünen“ Gesellschaft, die nicht in die Natur eingreift, wandert die Bevölkerung stattdessen nach einem Hochwasser eher in sicherere Gebiete ab.

Adaption versus Levee-Effekt
Mit diesem Modell lassen sich nun verschiedene Effekte mathematisch beschreiben: „Der sogenannte Adaptions-Effekt führt dazu, dass sich die Bevölkerung nach dem Hochwasser anpasst und beim nächsten Mal geringere Schäden zu erwarten sind“, erklärt Blöschl. „Der Levee-Effekt hingegen bewirkt das Gegenteil: Wenn etwa ein hoher Damm gebaut wird, dann siedelt sich die Leute genau dort an und fühlen sich sicher.“ Bei einem besonders starken Hochwasser, mit dem die Dämme nicht mehr zu Recht kommen, sind die Auswirkungen für die technisierte Gesellschaft dann allerdings viel gravierender.

Ein gesellschaftlicher Parameter im Rechenmodell der TU Wien stellt sich als entscheidend heraus: Die Stärke der Erinnerung an vergangene Hochwässer. In einer „grünen“ Gesellschaft sind kleinere Hochwasserkatastrophen nichts Ungewöhnliches, sie bleiben im Gedächtnis der Menschen. In der technisierten Gesellschaft treten sie so selten auf, dass man die Gefahr schließlich unterschätzt.
Bauliche Schutzmaßnahmen sind meist die Reaktion auf aktuelle Katastrophen. So hat man etwa die Wiener Donauinsel nach dem großen Hochwasser von 1954 errichtet. Gab es längere Zeit kein Hochwasser, geht das gesellschaftliche Bewusstsein zurück. Dazu werden an der TU Wien auch historische Analysen durchgeführt. „Dieser Gedächtnis-Effekt ist ganz wesentlich, wenn man das Zusammenspiel von Hochwasser und Gesellschaft verstehen will. Das lässt sich anhand unserer Daten über Jahrhunderte beobachten“, sagt Blöschl.

Besonders problematisch ist dieser Gedächtnis-Effekt in Hinblick auf die jahrzehntelangen Zyklen in der Hochwasserintensität. Wenn eine Region jahrzehntelang nicht von Hochwasser betroffen war, bedeutet das noch nicht, dass dort keine Gefahr besteht. „Es genügt nicht, sich bei der Beurteilung von Gefahren auf das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft zu verlassen, das vielleicht einige Jahrzehnte zurückreicht“, betont Günter Blöschl. „Beim Hochwasserschutz muss man in Jahrhunderten denken.“

EGU-Generalversammlung
Die Soziohydrologie gehört zu den vielen Fachgebieten, die von 12. bis 17. April bei der Europäischen Geowissenschaftlichen Union (European Geosciences Union, EGU) diskutiert werden. Mit etwa 12.000 Personen gehört sie zu den größten wissenschaftlichen Konferenzen, die je in Österreich stattgefunden haben. Seit 2012 ist Günter Blöschl Präsident der EGU.


Fotos: Matthias M. Muggli


Rückfragehinweis:
Univ.Prof. Günter Blöschl
Institut für Wasserbau und Ingenieurhydrologie
Technische Universität Wien
Karlsplatz 13, 1040 Wien
+43-1-58801-22315
bloeschl@hydro.tuwien.ac.at

Aussender:
Dr. Florian Aigner
Büro für Öffentlichkeitsarbeit
Technische Universität Wien
Operngasse 11, 1040 Wien
+43-1-58801-41027
florian.aigner@tuwien.ac.at